Periodische Ataxie und Nystagmus mit Spontanremission
Wenn nur die Anamnese hilft
Peer-review

Periodische Ataxie und Nystagmus mit Spontanremission

Was ist Ihre Diagnose?
Ausgabe
2024/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2024.1182967704
Swiss Med Forum. 2024;24(15):200-202

Affiliations
Stadtspital Zürich Triemli, Zürich: a Klinik Innere Medizin
b Abteilung Neurologie und Stroke Unit

Publiziert am 10.04.2024

Fallbeschreibung

Die erstmalige Vorstellung des 60-jährigen Patienten erfolgt aufgrund einer innerhalb von Minuten aufgetretenen Gangstörung, gefolgt von Schwindel und Sehstörung mit Progredienz über wenige Stunden. Als Vorerkrankung besteht eine mit Olmesartan behandelte arterielle Hypertonie. Nikotin-, Alkohol- und Drogenkonsum werden verneint. Klinisch finden sich eine Gangataxie, eine Hyperreflexie der oberen Extremitäten und ein Upbeat-Nystagmus. Die Pupillen sind isokor, mittelweit sowie direkt und indirekt lichtreagibel. Gesichtsfeldausfälle zeigen sich fingerperimetrisch nicht. Es besteht kein Meningismus, und die Sensomotorik des Gesichts und der Extremitäten ist erhalten. Der Patient ist in einem guten Allgemeinzustand, und die Vitalparameter sind bis auf einen hypertensiven Blutdruckwert normal (Blutdruck 159/82 mm Hg, Herzfrequenz 69/min, Sauerstoffsättigung 97%, Atemfrequenz 16/min, Temperatur 36,5 °C). Der Blutzuckerspiegel liegt bei 5,9 mmol/l. Bei Verdacht auf einen ischämischen Hirninfarkt oder eine intrakranielle Blutung erfolgt eine kraniale Computertomographie.
Frage 1
In welchem Bereich können passend zu den oben genannten Befunden am ehesten eine Ischämie oder Blutung erwartet werden?
a) Thalamus
b) Hirnstamm oder Kleinhirn
c) Frontallappen
d) Okzipitallappen
e) Alle der genannten Areale sind denkbar.
Das klinisch eindrückliche Bild eines Upbeat-Nystagmus deutet auf eine Schädigung im Bereich des Kleinhirns oder des Hirnstamms hin. Einer Gangataxie können neben zerebellären und zerebralen Ursachen auch spinale Pathologien oder sensorische oder propriozeptive Störungen wie bei einer Polyneuropathie zugrunde liegen, und sie muss somit nicht zwingend zentral bedingt sein. Den Upbeat-Nystagmus begleitend, ist hier allerdings von einer infratentoriellen Schädigung als Ursache für die Ataxie auszugehen. Eine Hyperreflexie tritt bei Schädigungen der kortikospinalen Bahnen, metabolisch-toxischen Enzephalopathien, Schlaganfällen, aber auch Elektrolytstörungen wie Hypomagnesiämie und Hypokalzämie auf. Dass sie auf die oberen Extremitäten beschränkt ist, könnte allenfalls für eine zeitgleich vorhandene Polyneuropathie der Beine sprechen. Bei Ausfällen im Bereich des Frontallappens sind neuropsychologische Auffälligkeiten und – falls das Broca-Areal betroffen ist – Aphasien typisch, die der Patient nicht aufweist. Bei Schlaganfällen im Bereich des Okzipitallappens kommt es häufig zu homonymen Gesichtsfeldausfällen, möglicherweise begleitet von einem visuellen Neglect. Ist der Thalamus betroffen, ist das typische klinische Bild ein kontralaterales sensomotorisches Hemisyndrom. Aufgrund der gemeinsamen Blutversorgung durch die Arteria cerebri posterior können bei ischämischen Hirninfarkten auch Thalamus und Okzipitallappen gemeinsam betroffen sein, mit entsprechend überlappender Klinik.
Sowohl das initiale Computertomogramm als auch das kraniale Magnetresonanztomogramm (MRT) am Folgetag sind unauffällig, weswegen eine Lumbalpunktion durchgeführt wird. In der Liquoranalyse zeigt sich eine diskrete, vorwiegend mononukleäre Pleozytose (5 Zellen/µl) mit erhöhtem Protein von 510 mg/l und einem Laktat von 2,3 mmol/l bei normwertiger Glukose (3,6 mmol/l). Die oligoklonalen Banden sind positiv, mit einer signifikanten intrathekalen Synthese von Immunglobulin G (IgG) und IgM.
Frage 2
Welche der folgenden Differentialdiagnosen ist bei Nachweis oligoklonaler Banden am wenigsten wahrscheinlich?
a) Autoimmune Enzephalitis
b) Multiple Sklerose
c) Neuroborreliose
d) Neurolues
e) Wernicke-Enzephalopathie
Oligoklonale Banden können bei allen Erkrankungen auftreten, die die Blut-Hirn-Schranke beinträchtigen oder bei denen es zu einer intrathekalen Immunglobulinproduktion kommt. Hierzu gehören neben der Multiplen Sklerose infektiöse Erkrankungen des zentralen Nervensystems, Autoimmunenzephalitiden oder Hirntumoren. Die Liquoranalyse bei Personen mit Wernicke-Enzephalopathie fällt oft normal aus, selten findet sich eine leichte Proteinerhöhung.
Da aus der Vorgeschichte ein Risikoverhalten (ungeschützter homosexueller Geschlechtsverkehr mit genitaler Gonokokken-Infektion zwei Monate zuvor) bekannt ist, wird eine Lues-Serologie veranlasst. Im Serum zeigen sich der Treponema-pallidum-Partikel-Agglutinations-(TPPA-) sowie der Rapid-Plasma-Reagin-(RPR-)Test positiv, weswegen der Verdacht auf eine Neurolues gestellt wird. Die Diagnose wird durch erhöhte TPPA- und RPR-Titer im Liquor erhärtet.
Frage 3
Von welcher Form einer Neurolues ist am ehesten auszugehen?
a) Meningovaskuläre Lues
b) Tabes dorsalis
c) Meningitische Lues
d) Luetische Gummen
e) Paralytische Neurolues
Aufgrund des akuten Auftretens, passend zu einem ischämischen Geschehen im vertebrobasilären Stromgebiet, gehen wir von einer meningovaskulären Neurolues aus. Trotz einer Sensitivität von über 90% im MRT kann es insbesondere im vertebrobasilären Stromgebiet zu MR-negativen ischämischen Hirninfarkten kommen [1]. Die klinische Manifestation einer Neurolues ist mannigfaltig, weswegen die Lues auch als «grosse Imitatorin» bezeichnet wird. In Tabelle 1 sind die verschiedenen Formen der Neurolues dargestellt.
Die Diagnose einer sekundären oder tertiären Lues erfordert den Nachweis positiver Treponemen-spezifischer Antikörper (z.B. TPPA-Test; Sensitivität 91%, Spezifität 100%) sowie nicht spezifischer Antikörper (z.B. RPR-Test; Sensitivität 95–100%, Spezifität 81–96%) im Serum [2]. Beide können bei primärer und auch latenter Lues falsch negativ sein. In der Liquoranalyse finden sich eine gemischtzellige oder mononukleäre Pleozytose >5–20/µl und erhöhtes Protein (>400–450 mg/l). Eine Therapie sollte bei oben genannten Befunden, passender Klinik sowie positiven nicht Treponemen-spezifischen Antikörpern im Liquor (z.B. Veneral-Disease-Research-Labarotory-[VDRL-]Test; Spezifität bis 100%, Sensitivität 30–86%) initiiert werden. Der Test auf Treponemen-spezifische Antikörper dient aufgrund der hohen Sensitivität von 76–95% zum Ausschluss einer Neurolues und weist erst bei einem hohen Titer von ≥1:640 eine Spezifität von >90% auf [3–6].

Frage 4

Welches ist die bevorzugte Therapie einer Neurolues?
a) Penicillin G
b) Doxycyclin
c) Ceftriaxon
d) Amoxicillin
e) Azithromycin
Die Therapie erfolgt mittels intravenösem Penicillin für 10–14 Tage. Bei schwerer Penicillinallergie und fehlender Möglichkeit einer Desensibilisierung kann eine Therapie mit Ceftriaxon unter Beobachtung hinsichtlich des Auftretens einer möglichen Kreuzallergie in Erwägung gezogen werden [7].
Die neurologische Symptomatik des Patienten ist bei erstmaligem Spitalaustritt in die Rehabilitation weiterhin bestehend, jedoch deutlich regredient. In den folgenden Monaten nach der ersten Hospitalisation kommt es erneut zu zwei stationären Aufenthalten aufgrund identischer Beschwerden. Nach zweimaliger zwischenzeitlicher Besserung berichtet der Patient erneut über eine progrediente Gangunsicherheit, Schwindel und Sehstörungen. Der Patient präsentiert sich nun in gutem Allgemeinzustand mit unauffälligen Vitalparametern. In der klinischen Untersuchung fallen ein breitbasiges, ataktisches Gangbild, ein Haltetremor der oberen Extremität sowie eine Extremitätenataxie beidseits auf. Zudem finden sich eine generalisierte Hyperreflexie bei negativem Babinski-Reflex und ein Upbeat-Nystagmus.
Blutbild, Entzündungsparameter, Leber- und Nierenwerte sowie Thyreotropin (TSH) und Vitamin B12 sind normwertig. In der Lumbalpunktion ist die Zellzahl normal (1/µl) bei leicht erhöhtem Protein. Die RPR-Titer sind im Serum und Liquor im Vergleich zum Vorbefund stabil respektive leicht rückläufig, was gegen einen Progress oder ein Rezidiv der Neurolues spricht. Im Schädel- und Wirbelsäulen-MRT finden sich keine Ischämie, keine entzündlichen Läsionen und keine Hinweise auf eine Myelopathie oder Neurokompression.
Nach erneuter fokussierter Anamnese aufgrund des ungewöhnlichen klinischen Verlaufs gibt der Patient an, seit ungefähr acht Monaten zweimal wöchentlich inhalativ Chlorethyl zu konsumieren. Die Frequenz des Konsums habe in letzter Zeit zugenommen, während der Hospitalisationen habe er nichts konsumiert. Es sei auch schon zu einem kurzzeitigen Bewusstseinsverlust im Rahmen des Konsums gekommen. Aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs und der bekannten Neurotoxizität von Chlorethyl gehen wir somit von einem kausalen Zusammenhang aus. Dem Patienten wird geraten, den Konsum zu sistieren. Sechs Wochen danach ist der Patient deutlich gangsicherer, die Doppelbilder und Sehstörungen sowie der Schwindel sind rückläufig. Klinisch kann kein Nystagmus mehr objektiviert werden, bei jetzt normalem Gangbild und unauffälliger Reflexprüfung. Zusammenfassend muss somit von einem direkten kausalen Zusammenhang der neurologischen Symptomatik mit dem inhalativen Chlorethyl-Konsum ausgegangen werden. Somit muss retrospektiv angenommen werden, dass es sich initial um eine asymptomatische Neurolues gehandelt hat, die jedoch ebenso einer Therapie bedarf [3–5, 7].

Diskussion

Chlorethyl ist ein farbloses, geruchsintensives Gas, das erstmals 1847 beschrieben wurde und in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Anästhetikum verwendet wurde. Aufgrund der engen therapeutischen Breite wurde es aber schnell durch Anästhetika mit besserem Sicherheitsprofil abgelöst. Es ist sehr lipophil und wird heutzutage als Kältemittel, Oberflächenlokalanästhetikum respektive als Ethylierungs- und Lösungsmittel gebraucht [8]. Die Verdunstung von Chlorethyl auf der Haut führt zu einem raschen Abkühlen, weswegen es gerne als Lokalanästhetikum bei Sportverletzungen verwendet wird. Als inhalative Droge wird es aufgrund seiner halluzinogenen, luststeigernden und euphorisierenden Wirkung benutzt, oft auch im Rahmen von Chemsex. Epidemiologische Daten zum Gebrauch finden sich kaum. Chlorethyl-Sprays sind nicht verschreibungspflichtig und in der Apotheke oder auch über das Internet einfach erhältlich. Der günstige Preis fördert die Missbrauchsgefahr zusätzlich. Die pathophysiologischen Hintergründe der Neurotoxizität sind kaum verstanden, der menschliche Chlorethyl-Metabolismus ist nicht erforscht [8].
Frage 5
Welcher klinische Befund ist nicht passend zu einer Chlorethyl-induzierten Neurotoxizität?
a) Nystagmus
b) Isolierte motorische Aphasie
c) Hyperreflexie
d) Akustische Halluzinationen
e) Quantitative Vigilanzminderung
Die Literatur über Chlorethyl-induzierte Neurotoxizität ist begrenzt und setzt sich hauptsächlich aus Fallberichten zusammen. Beschrieben sind Verwirrtheit, Beeinflussung des Kurzzeitgedächtnisses, Dysarthrie, visuelle und akustische Halluzinationen, Tremor, Ataxie, Doppelbilder mit Nystagmus und Hyperreflexie mit teils positivem Babinski-Reflex [9]. Daneben sind Fälle mit quantitativer Vigilanzminderung sowie zwei Todesfälle beschrieben, deren Ursache dem inhalativen Chlorethyl-Konsum zugeschrieben wurde [10, 11].
Die grosse Schwierigkeit besteht in der Diagnosestellung von Chlorethyl-induzierten neurologischen Ausfällen, wobei der genauen Anamneseerhebung eine zentrale Rolle zukommt. Apparative Abklärungen wie Bildgebung oder Elektroenzephalogramm (EEG) und Laboruntersuchungen inklusive Liquoranalyse dienen dem Ausschluss möglicher Differentialdiagnosen.
Therapeutisch stehen nebst der Früherkennung das Sistieren des Konsums sowie supportive Massnahmen im Vordergrund. In den bis anhin beschriebenen Fällen kam es zu einer graduellen Besserung der Symptome innerhalb von Tagen bis Wochen [9]. Spätfolgen mit möglichem Zusammenhang zum Konsum sind insbesondere bei längerfristigem Gebrauch in der Literatur beschrieben. Es finden sich bis anhin keine Hinweise auf eine physische Abhängigkeit, weswegen eine Entzugsprophylaxe nicht empfohlen wird.
Antworten
Frage 1: b. Frage 2: e. Frage 3: a. Frage 4: a. Frage 5: b.
Simone Kündig, dipl. Ärztin Klinik Innere Medizin, Stadtspital Zürich Triemli, Zürich
Simone Kündig
Klinik Innere Medizin
Stadtspital Zürich Triemli
Birmensdorferstrasse 497
CH-8063 Zürich
simone.kuendig[at]stadtspital.ch
1 Khalil AA, Hohenhaus M, Kunze C, Schmidt W, Brunecker P, Villringer K, et al. Sensitivity of diffusion-weighted STEAM MRI and EPI-DWI to infratentorial ischemic stroke. PLoS One. 2016;11(8):e0161416.
2 Sato I, Nakamachi Y, Ohji G, Yano Y, Saegusa J. Comparison of 17 serological treponemal and nontreponemal assays for syphilis: a retrospective cohort study. Pract Lab Med. 2022;32:e00302.
3 Ha T, Tadi P, Dubensky L. Neurosyphilis [Internet]. Treasure Island (FL): Stat Pearls Publishing; 2023 [Abruf am 01.03.2024]. Verfügbar unter: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK540979/
4 Ghanem KG. Review: Neurosyphilis: a historical perspective and review. CNS Neurosci Ther. 2010;16(5):e157–68.
5 Klein M, Angstwurm K, Esser S, Hahn K, Maschke M, Scheithauer S, et al. German guidelines on the diagnosis and treatment of neurosyphilis. Neurol Res Pract. 2020;2:33.
6 Marra CM, Maxwell CL, Dunaway SB, Sahi SK, Tantalo LC. Cerebrospinal fluid Treponema pallidum particle agglutination assay for Neurosyphilis diagnosis. J Clin Microbiol. 2017;55(6):1865–70.
7 Janier M, Unemo M, Dupin N, Tiplica GS, Potočnik M, Patel R. 2020 European guideline on the management of syphilis. J Eur Acad Dermatol Venereol. 2021;35(3):574–88.
8 Barceloux GD. Ethyl chloride. In: Palmer RM, Hg. Medical toxicology of drug abuse: synthesized chemicals and psychoactive plants. Hoboken (NJ): John Wiley & Sons; 2012. S. 691–3.
9 Al-Ajmi AM, Morad MA, Cooper PE, Hassino LH, Siddeiq MA. Reversible ethyl chloride neurotoxicity: a case report. Can J Neurol Sci. 2018;45(1):119–20.
10 Yacoub I, Robinson CA, Simmons GT, Hall M. Death attributed to ethyl chloride. J Anal Toxicol. 1993;17(6):384–5.
11 Broussard LA, Broussard AK, Pittman TS, Lirette DK. Death due to inhalation of ethyl chloride. J Forensic Sci. 2000;45(1):223–5.
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