Erneute Gabe von Rocuronium nach Reversierung mit Sugammadex möglich
Muskelrelaxation bei Myasthenia gravis
Peer-review

Erneute Gabe von Rocuronium nach Reversierung mit Sugammadex möglich

Der besondere Fall
Ausgabe
2024/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2024.1174102895
Swiss Med Forum. 2024;24(13-14):184-186

Affiliations
a Institut für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Stadtspital Triemli, Zürich
b Institut für Anästhesiologie, Kantonsspital Winterthur, Winterthur
c Institut für Anästhesie und Intensivmedizin, Spital Limmattal, Schlieren

Publiziert am 27.03.2024

Hintergrund

Muskelrelaxanzien erleichtern die endotracheale Intubation und verbessern die Operationsbedingungen. Die Blockade der neuromuskulären Übertragung wird mittels supramaximaler Stimulation des Nervus ulnaris und der daraus resultierenden Aktivierung des Musculus adductor pollicis gemessen. Obwohl heute mit der Akzelerometrie ein objektives neuromuskuläres Monitoring zur Verfügung steht, wird dieses nur ungenügend eingesetzt. Dies führt zur Gefahr einer postoperativen Restrelaxation («Relaxanzienüberhang»), die mit einer erhöhten Morbidität assoziiert ist [1]. Als Standardmessmethode wird intraoperativ die Train-of-four-Messung mittels Akzelerometrie verwendet. Hierbei werden sowohl die Muskelkontraktion pro Stimulation («train-of-four count») als auch das Verhältnis der vierten Muskelantwort zur ersten Muskelantwort («train-of-four ratio» [TOFR]) gemessen.
Im Kontext der neuromuskulären Restblockaden stellt die Myasthenia gravis, eine neuromuskuläre Erkrankung mit erhöhter Sensibilität gegenüber nicht depolarisierenden Muskelrelaxanzien, eine zusätzliche Herausforderung für das Anästhesieteam dar. Aufgrund der insgesamt niedrigen Fallzahlen können die einzelnen Anästhesisten und Anästhesistinnen mehrheitlich nur auf ihr theoretisches Wissen zurückgreifen.

Fallbericht

Anamnese

Wir berichten über eine 34-jährige Patientin (Gewicht 55 kg, Grösse 156 cm, Body Mass Index 22,6 kg/m2), die uns zur elektiven Thymektomie bei generalisierter Myasthenia gravis zugewiesen wurde.
Nach Erstmanifestation der Erkrankung mit rezidivierenden Schwierigkeiten beim Sehen, Doppelbildern, Schluckbeschwerden und Dysarthrie war zwei Jahre später erstmalig eine ärztliche Konsultation erfolgt. Nach Diagnosestellung und Einleitung einer immunsuppressiven Therapie mit Prednisolon und Azathioprin kombiniert mit Pyridostigmin zur symptomatischen Behandlung wurde früh die Indikation zur Thymektomie gestellt. Im vorliegenden Fall beschreiben wir das perioperative Vorgehen und die Besonderheiten bei einer Patientin mit Myasthenia gravis, mit besonderem Augenmerk auf der erneuten Gabe eines Muskelrelaxans nach vorheriger Reversierung mit Sugammadex.

Therapie und Verlauf

Der elektive Eintritt der klinisch beschwerdefreien Patientin ins Spital zur oberen partiellen Sternotomie und totalen Thymektomie erfolgte zehn Monate nach Erstdiagnose.
Die medikamentöse Dauertherapie wurde am Operationstag fortgesetzt. Auf eine Prämedikation mit Sedativa wurde zugunsten der Grunderkrankung verzichtet. Es wurde eine intravenöse Narkoseform gewählt. Hierbei verwendeten wir Propofol mittels «target-controlled infusion» (TCI, Modell nach Marsh) sowie Remifentanil als Dauerinfusion mittels Spritzenpumpe.
Die Messung der neuromuskulären Funktion erfolgte akzeleromyographisch am Musculus adductor pollicis der linken Hand. Die Ausgangsmessung an der sedierten, nicht relaxierten Patientin ergab TOFR von 91%. Unter Single-Twitch-Kontrolle (repetitive Reize mit supramaximaler Reizstärke und einer Frequenz von 2 Hz) verabreichten wir 20 mg Rocuronium (0,36 mg/kg), woraufhin nach drei Minuten bei visuell fehlender Reizantwort problemlos intubiert werden konnte. Aufgrund einer notfallbedingten Ressourcenüberschneidung konnte die Operation nicht wie geplant stattfinden, sondern musste auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Die neuromuskuläre Blockade ergab bei Narkoseausleitung (80 Minuten nach Verabreichung von Rocuronium) eine TOFR von 63%. Zur Aufhebung der Relaxierung wurde Sugammadex 200 mg (circa 3,6 mg/kg) appliziert. Die Zeit bis zur vollständigen neuromuskulären Erholung betrug etwa zwei Minuten (TOFR bei Extubation 95%). Die Ausleitung verlief problemlos (Abb. 1).
Abbildung 1: Protokoll der ersten Narkose.
Zur weiteren Überwachung erfolgte die Verlegung auf die postoperative Aufwachstation. Schliesslich konnte die Operation mit Einverständnis der Patientin sowie aller involvierten Disziplinen 170 Minuten nach erstmaliger Narkoseausleitung durchgeführt werden (Abb. 2).
Abbildung 2: Protokoll der zweiten Narkose.
Wir wählten dieselbe Medikation wie zuvor, inklusive Rocuronium in derselben Dosierung (275 Minuten nach der ersten Gabe). Unter erneuter Single-Twitch-Kontrolle konnte nach circa drei Minuten bei visuell fehlender Reizantwort intubiert werden. Vor Hautschnitt wurde beim Nachweis rückkehrender Reizantwort im «Train-of-Four» (vier Muskelkontraktionen im «train of four count») erneut Rocuronium 40 mg verabreicht. Am Ende der Operation, 200 Minuten nach der letzten Gabe von Rocuronium (Gesamtdosis: 60 mg), zeigte sich spontan eine TOFR von 96%. Die Extubation konnte somit ohne erneute Reversierung erfolgen. Wieder wurde die Patientin auf die postoperative Aufwachstation verlegt. Es kam zu keinerlei postoperativen Komplikationen.

Diskussion

Die anästhesiologische Herausforderung im vorliegenden Fall beruhte auf der wiederholt notwendigen Muskelrelaxierung trotz vorheriger Reversierung einer Restblockade mit Sugammadex bei bestehender Myasthenia gravis.
Die Myasthenia gravis, eine Autoimmunerkrankung mit belastungsabhängiger Erschlaffung der quergestreiften Muskulatur, kann sich klinisch sehr variabel präsentieren. Intraoperativ gelten neben den speziellen anästhesiologischen Handlungsempfehlungen, wie dem Verzicht auf eine orale Prämedikation mittels Benzodiazepinen, die allgemein gültigen Prinzipien der Narkoseführung [2]. Besonderes Augenmerk gilt der Verwendung von Muskelrelaxanzien.
Die Schwierigkeit ergibt sich aus der variablen Sensitivität, der vorbestehenden Muskelschwäche sowie der Interaktion durch die Dauertherapie [3]. Eine Reduktion der Relaxansdosis wurde von mehreren Seiten empfohlen [2, 4]. Sungur Ulke et al. berichteten über die initiale Gabe von 0,3 mg/kg Rocuronium zur Intubation mit überwiegend exzellenten Intubationsbedingungen [4]. Die Nutzung eines quantitativen neuromuskulären Monitorings als Goldstandard sowohl zur Verifizierung des initialen Effekts als auch zur Detektion möglicher Restblockaden sollte allgemein zum Standard bei Verwendung von Muskelrelaxanzien gehören [5]. Die Messung der TOFR vor Gabe eines Muskelrelaxans sollte vor allem bei Patientinnen und Patienten mit Myasthenia gravis erfolgen, um einerseits bei einem erniedrigten Ausgangswert mit einer möglichen erhöhten Sensibilität auf Muskelrelaxanzien zu rechnen und andererseits postoperativ die anzustrebende TOFR zu kennen [6].
Mit Einführung von Sugammadex (Bridion®) in Europa im Jahr 2008 steht nun ein modifiziertes Gamma-Cyclodextrin zur Enkapsulierung aminosteroidaler Muskelrelaxanzien, speziell Rocuronium, im Plasma zur Verfügung. Die Möglichkeit der Reversierung einer Restblockade unabhängig vom Verabreichungszeitpunkt veränderte den Umgang mit dieser Substanzgruppe grundlegend [3, 7].
Effizienzprobleme bei der Nutzung von Sugammadex sind jedoch möglich und werden in zwei Kategorien unterteilt. Die erste Kategorie bezeichnet die fortbestehende neuromuskuläre Restblockade, wobei die TOFR nie einen Wert über 90% erreicht [3]. Fernandes et al. beschreiben in Bezug darauf ein Versagen der Reversierung trotz wiederholter Gabe von Sugammadex (Kumulativdosis 7,27 mg/kg) bei einem Patienten mit Myasthenia gravis. Erst nach Verabreichung von Neostigmin konnte eine Erholung der Blockade erreicht werden [8].
Die zweite Kategorie, ein Wiederauftreten der neuromuskulären Blockade nach bereits erreichter TOFR ≥90%, ist sehr selten. Die Inzidenz wird bei korrekter Dosierung mit 0,2% angegeben. Die Dosis sollte nach dem tatsächlichen Körpergewicht berechnet werden, wobei Dosierungen von <2 mg/kg vom Hersteller nicht empfohlen werden [3, 7].
In einer Studie von Sungur Ulke et al. im Jahr 2013 wurde die Rocuronium-Sugammadex-Sequenzapplikation erstmals auch für Personen mit Myasthenia gravis zur Thymektomie als effektiv beschrieben [4]. Die Kombination erwies sich seither als sicher und zuverlässig [3].
Durch die Wirkung von Sugammadex im Plasma kommt es zu keiner Interferenz am Acetylcholinrezeptor. Eine bestehende Dauermedikation mit Acetylcholinesterase-Hemmern wird somit nicht beeinflusst beziehungsweise wird die Gefahr einer cholinergen Krise bei Verwendung ebendieser Substanzgruppe zur Antagonisierung einer Restblockade verhindert [2].
Die besonderen Umstände im vorliegenden Fall erforderten eine erneute neuromuskuläre Blockade nur 195 Minuten nach Reversierung mit Sugammadex. Laut Fachinformation für Bridion® sollte die zu verabreichende Dosis von Rocuronium nach einer Wartezeit von vier Stunden 0,6 mg/kg betragen (gültig bei vorheriger Gabe von Sugammadex bis zu 4 mg/kg) [7]. Eine spezielle Dosierungsempfehlung beim Vorliegen einer Myasthenia gravis existiert jedoch nicht. Aber auch hier kann die Verwendung eines quantitativen neuromuskulären Monitorings zur Steuerung der Blockadetiefe eine strukturierte Herangehensweise ermöglichen [9]. Bei Notwendigkeit einer notfallmässigen Reintubation mit erneuter Relaxation nach Verwendung von Sugammadex, zum Beispiel bei einer Nachblutung, sollte vor Ablauf der empfohlenen Wartezeit für Sugammadex auf ein nicht steroidales Muskelrelaxans zurückgegriffen werden.
Ein interdisziplinärer Ansatz bezüglich des optimalen Operationszeitpunkts und des perioperativen Ressourcenmanagements wäre bei dieser vulnerablen Patientengruppe sicher wünschenswert. Retrospektiv hätte dies in unserem Fall die Mehrbelastung der Patientin durch das zweizeitige Vorgehen eventuell verhindert.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Durch die Verwendung eines objektiven neuromuskulären Monitorings während Narkosen mit Verwendung von Muskelrelaxanzien, speziell auch bei vorliegender Myasthenia gravis, können Restblockaden frühzeitig erkannt und behandelt werden, weshalb es als Goldstandard in der Beurteilung von Restblockaden gilt.
  • Bei bestehender Myasthenia gravis sollte die Dosis der verwendeten Muskelrelaxanzien titriert verabreicht werden.
  • Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse unterstützen die Verwendung der Rocuronium-Sugammadex-Sequenzapplikation für Personen mit Myasthenia gravis. Trotzdem sollte die erfolgreiche Reversierung einer neuromuskulären Restblockade objektiv verifiziert werden.
Dr. med. univ. (AT) Nina Gründlinger Institut für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Stadtspital Triemli, Zürich
Dr. med. univ. Nina Gründlinger
Institut für Anästhesiologie
Universitäts-Kinderspital Zürich
Eleonorenstiftung
Steinwiesstrasse 75
CH-8032 Zürich
nina.gruendlinger[at]kispi.uzh.ch
1 Kirmeier E, Eriksson LI, Lewald H, Jonsson Fagerlund M, Hoeft A, Hollmann M, Meistelman C, Hunter JM, Ulm K, Blobner M; POPULAR Contributors. Post-anaesthesia pulmonary complications after use of muscle relaxants (POPULAR): a multicentre, prospective observational study. Lancet Respir Med. 2019;7(2):129–40.
2 Blichfeldt-Lauridsen L, Hansen BD. Anesthesia and myasthenia gravis. Acta Anaesthesiol Scand. 2012;56(1):17–22.
3 Schaller SJ, Lewald H. Clinical pharmacology and efficacy of sugammadex in the reversal of neuromuscular blockade. Expert Opin Drug Metab Toxicol. 2016;12(9):1097–108.
4 Sungur Ulke Z, Yavru A, Camci E, Ozkan B, Toker A, Senturk M. Rocuronium and sugammadex in patients with myasthenia gravis undergoing thymectomy. Acta Anaesthesiol Scand. 2013;57(6):745–8.
5 Errando CL, Garutti I, Mazzinari G, Díaz-Cambronero Ó, Bebawy JF. Residual neuromuscular blockade in the postanesthesia care unit: observational cross-sectional study of a multicenter cohort. Minerva Anestesiol. 2016;82(12):1267–77.
6 Fujimoto M, Terasaki S, Nishi M, Yamamoto T. Response to rocuronium and its determinants in patients with myasthenia gravis: a case-control study. Eur J Anaesthesiol. 2015;32(10):672–80.
7 European Medicines Agency [Internet]. Amsterdam: EMA; c1995–2021 [Abruf am 20.01.2021]. Bridion product information. Verfügbar unter: https://www.ema.europa.eu/en/documents/product-information/bridion-epar-product-information_en.pdf.
8 Fernandes HDS, Ximenes JLS, Nunes DI, Ashmawi HA, Vieira JE. Failure of reversion of neuromuscular block with sugammadex in patient with myasthenia gravis: case report and brief review of literature. BMC Anesthesiol. 2019;19(1):160.
9 Prottengeier J, Weith T, Muenster T. Orphan diseases: impact for anesthesia practice. Curr Opin Anaesthesiol. 2015;28(6):691–6.
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