Molekulargenetik und Molekularpathologie beim Prostatakarzinom
Neue Erkenntnisse und ihre diagnostischen und therapeutischen Konsequenzen

Molekulargenetik und Molekularpathologie beim Prostatakarzinom

Übersichtsartikel
Ausgabe
2022/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08858
Swiss Med Forum. 2022;22(0102):28-34

Affiliations
a Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie, Kantonsspital St. Gallen; b Klinik für Urologie, Kantonsspital St. Gallen; c Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie, Stadtspital Zürich Triemli und Waid, Zürich; d Gemeinschaftspraxis Arnegg, Arnegg; e Institut für Pathologie, Kantonsspital St. Gallen; f Institut für Medizinische Genetik, Universität Zürich, Schlieren

Publiziert am 04.01.2022

Beim Prostatakarzinom sind in den letzten Jahren grosse Fortschritte im Bereich der molekularpathologischen Charakterisierung erzielt worden, was entscheidend zur Entwicklung zielgerichteter Therapien beigetragen hat.

Hintergrund

Das Prostatakarzinom ist die häufigste Tumorerkrankung des Mannes. In der Schweiz werden jedes Jahr mehr als 6000 Neudiagnosen im mittleren Alter von 70 Jahren gestellt. Gut etabliert ist die Erkenntnis, dass es sich beim Prostatakarzinom um eine heterogene Erkrankung handelt. Lokalisierte, niedrig maligne Karzinome bedürfen nicht immer einer aktiven Behandlung, jedoch einer standardisierten Überwachungsstrategie. Daneben gibt es aggressive histologische Varianten des Prostatakarzinoms, beispielsweise das intraduktale oder cribriforme Prostatakarzinom, die trotz lokaler radikaler Behandlung rezidivieren können oder erst im fortgeschrittenen, metastasierten Stadium manifest werden.
In den letzten Jahren sind grosse Fortschritte bei der Erforschung der genetischen Prädisposition für ein Prostatakarzinom gemacht worden. Neueste Untersuchungen von Patienten mit metastasierter Erkrankung konnten eine erbliche Prädisposition mit Keimbahn­alterationen in circa 10% der Fälle aufzeigen, unter anderem in den DNA-Reparaturgenen BRCA1, BRCA2 und ATM sowie in Genen von DNA-Mismatch-Reparaturproteinen (-MMR). Bei nur etwa 50–60% dieser Fälle besteht eine positive Familienanamnese für Tumorerkrankungen.
Internationale Leitlinien haben in den letzten Jahren zunehmend Kriterien festgelegt, in welchen Fällen eine weiterführende genetische Beratung und Testung durchgeführt werden soll. Um der Wahrscheinlichkeit von 10% für eine Keimbahnmutation Rechnung zu tragen, werden demnächst durch das «Netzwerk für die Testung auf eine genetische Krebsprädisposition und Risikoberatung» («Network for Cancer Predisposition Testing and Counseling» [CPTC]) der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für klinische Krebsforschung (SAKK) auch Leitlinien für die Schweiz publiziert [1].
Daten zur Wirksamkeit von PARP-(Poly[ADP-Ribose]-Polymerase-)Inhibitoren, insbesondere von Olaparib und Rucaparib, aber auch anderen, verändern in der fortgeschrittenen Situation der Prostatakarzinombehandlung die Gewichtung der molekularpathologischen Testung.
In diesem Beitrag werden die Hintergründe und aktuellen Entwicklungen in der Molekulargenetik beim Prostatakarzinom zusammengefasst.

Risikofaktoren für die Entwicklung eines Prostatakarzinoms

Die Ätiologie des Prostatakarzinoms ist multifaktoriell. Epidemiologische Studien weisen diesbezüglich auf verschiedene Umwelt- und Lebensstilfaktoren hin (Tab. 1). Aus grossen Fallstudien ist bekannt, dass eine Familienanamnese mit beispielsweise Prostatakarzinomdiagnose bei Vater oder Bruder das Erkrankungsrisiko für einen Mann deutlich erhöht. Eine gewisse ­familiäre Häufung könnte aber auch mit einem vermehrten Prostatakarzinom-Screening von Personen mit betroffenen Familienangehörigen zusammenhängen.
Die hereditäre Form des Prostatakarzinoms wird einerseits auf relativ selten vorkommende genetische Varianten (Keimbahnmutationen) mit hoher Penetranz ­zurückgeführt, andererseits aber auch auf häufig vorkommende Einzelnukleotid-Polymorphismen («single nucleotide polymorphisms» [SNPs]), die für sich alleine genommen das Risiko für ein Prostatakarzinom nur gering erhöhen, aber bei Kumulation ein relevantes Risiko darstellen. Weit mehr als 100 SNPs, die mit der Entwicklung eines Prostatakarzinoms assoziiert sind, wurden bislang identifiziert. Zu einer relevanten Erhöhung des Prostatakarzinomrisikos tragen auch Defekte in Hochrisikogenen bei, die zu einem Funktionsausfall führen, insbesondere bei BRCA1, BRCA2, HOXB13 oder den Genen der DNA-MMR MLH1, MSH2, MSH6 und PMS2 (s. Tab. S1 im Online-Appendix des Artikels).
Tabelle 1: Risikofaktoren für die Entwicklung eines Prostatakarzinoms.
RisikofaktorEinfluss auf Prostatakarzinomrisiko
Alter<40 Jahre ist ein Prostatakarzinom sehr selten, 6/10 Fälle betreffen Männer ≥65 Jahre
EthnieErhöhtes Risiko für People of Color
GeographieHäufig: Nordamerika, Europa, Australien, Karibik
Weniger häufig: Asien, Zentralamerika, Südamerika
MilchprodukteSchwache Korrelation mit Einnahme von Milchprodukten und Risikoerhöhung
PhytoöstrogeneMöglicherweise korreliert mit niedrigerem Prostatakarzinomrisiko
Vitamin DU-förmige Assoziation mit Prostatakarzinomrisiko
5-Alpha-Reduktase-InhibitorenReduktion des Risikos für niedrigmaligne Karzinome, aber mögliche Erhöhung des Risikos für High-Grade-Karzinome
Cave: Unter 5-Alpha-Reduktase-Inhibitoren wird PSA um 50% reduziert!
EjakulationHöhere Ejakulationsfrequenz (≥21×/Monat vs. 4–7×/Monat) assoziiert mit 20%iger Risikoreduktion
Verwandter 1. Grades (in jeglichem Alter)Ca. 2-fach erhöhtes Risiko
Verwandter 1. Grades (Diagnose mit <65 Jahren)Ca. 3-fach erhöhtes Risiko
Vater und Bruder mit ProstatakarzinomCa. 5-fach erhöhtes Risiko
Zwei Brüder mit ProstatakarzinomCa. 7-fach erhöhtes Risiko
BRCA2-Mutation 3- bis 8-fach erhöhtes Risiko
BRCA1-Mutation1- bis 3-fach erhöhtes Risiko
Lynch-Syndrom2- bis 4-fach erhöhtes Risiko
HOXB133- bis 8-fach erhöhtes Risiko
SNPs (mehr als 100 bekannt)Risikoerhöhung für ein einzelnes SNP jeweils gering, aber kumuliert deutlich ansteigend
SNP: «single nucleotid polymorphism».

Definition von Keimbahnmutation und somatischer Mutation

Zu Verwirrung führen häufig die Begriffe «Keimbahnmutation» und «somatische Mutation», deren unterschiedliche Bedeutung wir hier erklären möchten. Keimbahnmutationen betreffen die Keimbahn, sind in allen Körperzellen nachweisbar und können über die Keimzellen an die Nachkommen vererbt werden. ­Somatische Mutationen sind dagegen Veränderungen, die im Laufe des Lebens erworben wurden und nicht via Keimbahn an die Nachkommen weitervererbt werden (Abb. 1).
Abbildung 1: Unterschied zwischen Keimbahnmutation und somatischer Mutation.
In der Onkologie spricht man daher bei genetischen Veränderungen, die im Verlauf der Karzinogenese entstanden sind und ausschliesslich im Tumorgewebe vorkommen, von somatischen Mutationen.
Zudem können sich Tumoren im fortgeschrittenen Stadium heterogen entwickeln. Das heisst, nicht alle somatischen Mutationen sind in allen Krebszellen vorhanden (intratumorale Heterogenität). Dies hat insbesondere Implikationen, wenn Gewebeproben von Tumoren molekularpathologisch untersucht werden. Der fehlende Nachweis einer vermuteten Mutation in der Tumorbiopsie könnte darauf zurückzuführen sein, dass innerhalb eines Tumors oder auch zwischen Tumor und Metastasen eine Heterogenität besteht. Auch unter der onkologischen Systemtherapie können sich Tumoren und Metastasen unterschiedlich entwickeln. Folglich sollte für molekularpathologische Untersuchungen immer die aktuellste Gewebeprobe verwendet werden. Beim fortgeschrittenen Prostatakarzinom ist die Gewinnung einer Biopsie aus einer Metastase bei prädominantem Metastasierungsmuster im Knochen oft nicht einfach. Die Hoffnung besteht, dass in naher Zukunft für solche Analysen auch zirkulierende Tumor-DNA («Liquid Biopsy») verwendet werden kann.

Keimbahnmutationen beim ­Prostatakarzinom

In einer grossen Arbeit aus dem Jahr 2016, die fast 700 Patienten mit metastasiertem Prostatakarzinom umfasste, wurden bei knapp 12% der Patienten Keimbahnmutationen in einem von 16 untersuchten ­Genen nachgewiesen [2]. In New York lag die Rate an Keimbahnmutationen bei 18,5%, was auf einen relativ hohen Anteil an Patienten mit Ashkenazy-Vorfahren mit einer bekannt hohen Frequenz von BRCA2-Mutationen zurückzuführen sein dürfte. Für die Schweiz liegen keine Daten vor, aber es wird geschätzt, dass die Rate an Keimbahnmutationen vermutlich eher im Bereich von 10% liegt. Die am häufigsten nachgewiesene Keimbahnmutation betraf BRCA2 (5–6%), gefolgt von CHEK2 (2%) und ATM (1–2%). Bei circa 40% dieser Fälle fand sich keine auffällige Familienanamnese. Ein molekulargenetisches Screening, dessen Indikation ausschliesslich auf einer Häufung von Karzinomen in der Familie beruht, wäre beim Prostatakarzinom somit nicht zuverlässig (Tab. 2). Es ist wichtig zu betonen, dass hier Patienten mit metastasierter ­Erkrankung untersucht wurden. Beim lokalisierten, nicht metastasierten Prostatakarzinom liegt die Rate an BRCA2-Mutationen deutlich niedriger, im Bereich von 1–2%.
Tabelle 2: Indikation für genetische Untersuchung bei Patienten mit Prostatakarzinom in Anlehnung an die Empfehlung des «Netzwerks für die Testung auf eine genetische Krebsprädisposition und Risikoberatung» der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für klinische Krebsforschung (SAKK).
Klinische SituationSomatische molekularpathologische TestungGezielte molekulargenetische ­Keimbahn-Verifizierung [1]
Metastasiertes Prostatakarzinom inklusive histologischer Varianten (in­traduktal/cribriform)– Soll erfolgen, falls der Patient sich im Therapieverlauf für eine Therapie mit z.B. einem PARP-Inhibitor oder einem Checkpoint-Inhibitor qualifiziert.
– Testung erfolgt am Tumorgewebe (evtl. in naher Zukunft auch als «Liquid Biopsy»); NGS-Panel bzgl. DNA-­Reparaturgenen, DNA-Mismatch-­Reparaturprotein-Genen, Mikrosatelliten-­Instabilität.
– Die Rate an relevanten Befunden liegt im Bereich von 15–30%.
Genetische Beratung und gezielte Mutationsanalyse soll erfolgen, falls in der somatischen Testung eine Alteration gefunden wird in BRCA1/2, ATM, PALB2, CHEK2 oder abhängig von der Konstellation in MLH1, MSH2, MSH6, PMS2 oder abhängig von Befund und auffälliger Familienanamnese.
Erweiterte Keimbahnuntersuchung (Panel-Testung)
Genetische Beratung und gegebenenfalls Testung: High-Grade-Prostatakarzinom (Gleason-Score ≥7) oder metastasierte ­Erkrankung mit
– Ashkenazy-Vorfahren
– >1 Person in der erstgradigen Verwandtschaft mit Brustkrebs (≤50 Jahren), Ovarial-, Pankreas- oder metastasiertem oder intraduktalem/cribriformem Prostatakarzinom
– ≥2 Personen in der erstgradigen Verwandtschaft mit Brust- oder Prostatakarzinom (in jeglichem Alter)
NGS: «next generation sequencing».
Für Details zur Keimbahntestung verweisen wir auf die schweizerischen Guidelines [1]: Update Swiss Guideline for counselling and testing for predisposition to breast, ovarian, pancreatic and prostate cancer.

Somatische Mutationen beim ­Prostatakarzinom

Wenn das Tumorgewebe von Patienten mit metastasiertem Prostatakarzinom molekularpathologisch untersucht wird, finden sich in etwa 15–30% der Fälle relevante genomische Alterationen, speziell in Genen, die direkt oder indirekt an der Reparatur von DNA-Schäden (homologe Rekombination) involviert sind. Am häufigsten werden Mutationen in BRCA2 gefunden, gefolgt von solchen in ATM, CDK12, CHEK2 und BRCA1. Weiter lassen sich in der metastasierten Situation des Prostatakarzinoms bei etwa 2–3% der Patienten Defekte in Genen von DNA-MMR oder eine Mikrosatelliten-Instabilität dokumentieren.

Die Histologie ist wichtig: Bedeutung histopathologischer Varianten

Die Mehrheit der untersuchten Prostatakarzinome sind azinäre Adenokarzinome. Bei 5–10% der Patienten werden jedoch histologische Varianten nachgewiesen. Einer duktalen oder cribriformen Morphologie wird automatisch ein Gleason-Score von 4 zugewiesen. Gemäss den Guidelines der «European Association of Urology» (EAU) müssen Pathologieberichte auch das Vorhandensein von intraduktalen Wachstumsmustern spezifisch und ohne Gleason-Gradierung ausweisen. In den meisten Fällen treten diese histopathologischen Muster gemischt mit dem klassischen azinären Adenokarzinom auf. Das intraduktale und cribriforme Adenokarzinom der Prostata (früher als «endometroides Prostatakarzinom» bezeichnet) gilt als aggressiver Subtyp, der mit ungünstigen prognostischen Faktoren assoziiert ist (Abb. 2). Entsprechend sind diese histologischen Varianten bei einer lokalisierten Prostatakrebserkrankung als High-Risk-­Tumor zu werten und zu behandeln. Interessante molekulargenetische Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass bei diesen Varianten des Prostatakarzinoms eine hohe genomische Instabilität vorliegt, mit gehäuften Alterationen in DNA-Reparaturgenen (bis 50%), insbesondere in BRCA2. Trotz der markanten Histologie wurden jedoch bislang keine eindeutigen Gewebemarker entdeckt, die für die histopathologische Bestätigung einzigartig wären. Dies hebt die Bedeutung der sorgfältigen histologischen Beurteilung und Beschreibung durch die Pathologie hervor, insbesondere aufgrund der klinischen Implikationen von High-Risk-Tumoren.
Abbildung 2: Fallbeispiel Prostatakarzinom mit histologischen Varianten.
76-jähriger Patient mit Neudiagnose Prostatakarzinom cT4 (Verdacht auf Rektuminfiltration) cN0 cM0 Gleason-Score 9 (5+4), PSA 17,8 μg/l. Nach Vorstellung im Tumorboard und Besprechung mit dem Patienten Entscheidung für definitive Radiotherapie der Prostata und Samenblasen mit 38 × 2 Gy = 76 Gy mit begleitender Androgendeprivation (ADT) über zwei Jahre. Unter ­laufender ADT: PSA-Nadir von <0,1 μg/l nach sechs Monaten, nach 15 Monaten unter ADT aber steigender PSA-Wert auf >1,0 μg/l. Damit Entwicklung eines kastrationsresistenten Stadiums als Ausdruck eines ungünstigen, aggressiven Verlaufs.
Initiale Histologie (transurethrale Resektion der Prostata [TUR-P]): Invasives, duktales Prostatakarzinom, teilweise mit cribri­formem Wachstum.
Immunhistochemie : Verlust von MSH2 , MSH6 und PTEN .
Molekulargenetik : Hochgradige Mikrosatelliten-Instabilität (5/5 Loci), TP53 -Mutation.
Mikroskopie : A) Intraduktales (= in situ) Prostatakarzinom cribriform; B) duktales (= invasives) Prostatakarzinom. Färbung ­jeweils Hämatoxylin-Eosin (Mitose: Pfeile).

DNA-Reparaturdefekte bei fortgeschrittenem Prostatakarzinom – ­Zugang zu neuen Therapien

In die PROfound-Studie, die bisher grösste klinische Studie in diesem Kontext, wurden Patienten mit kastrationsresistentem Prostatakarzinom und Krankheitsprogress nach mindestens einer endokrinen Therapielinie (Abirateron oder Enzalutamid) und in zwei Dritteln der Fälle auch bereits erfolgter Docetaxel-Gabe eingeschlossen [3]. Zusätzliches Kriterium war der Nachweis einer Mutation in einem prädefinierten DNA-Reparaturgen (BRCA1, BRCA2, ATM, BRIP1, BARD1, CDK12, CHEK1, CHEK2, FANCL, PALB2, PPP2R2A, RAD51B, RAD51C, RAD51D oder RAD54L). Im experimentellen Arm erhielten Patienten den PARP-Inhibitor Olaparib, im Kontrollarm eine endokrine Therapie (Abirateron nach Enzalutamid oder Enzalutamid nach Abirateron). In der Summe zeigte sich mit Olaparib ein signifikanter Vorteil beim progressionsfreien Überleben sowie beim Gesamtüberleben. Es fanden sich in Abhängigkeit von den genomischen Alterationen deutliche Unterschiede in der Wirksamkeit von Olaparib. Olaparib ist in der Schweiz für Patienten mit kastrationsresistentem Prostatakarzinom nach Versagen einer neuen endokrinen Therapie und bei Nachweis einer BRCA-Mutation (somatisch oder der Keimbahn) zugelassen.
Weitere PARP-Inhibitoren sind in der Entwicklung und werden im Rahmen laufender Studien als Monotherapie oder in Kombination untersucht. Diese Entwicklung führt dazu, dass bei allen Patienten mit metastasierter Prostatakrebserkrankung, die fit sind für eine zielgerichtete Therapie, eine molekularpathologische Untersuchung des Tumorgewebes empfohlen wird. Bei Nachweis einer somatischen, pathogenen Variante, insbesondere in den Genen BRCA1 und BRCA2, ATM, PALB2 und CHEK2, wird eine anschliessende genetische Beratung und gezielte Trägerschafts-Testung (Keimbahnmutations-Analyse) empfohlen, um eine Keimbahnvariante zu erkennen, die von Relevanz für die ­erweiterte Familie sein kann (Tab. 2).
Defekte im DNA-Reparatursystem sind nicht nur mit einem Ansprechen auf eine PARP-Inhibitor-Therapie assoziiert, sondern auch mit dem auf eine platinbasierte Chemotherapie. Letztere könnte eine weitere Therapiemöglichkeit bei Nachweis eines Defekts in DNA-Reparaturgenen darstellen. Diese Empfehlung wird aber aktuell von den Guidelines noch nicht gestützt, da prospektive Studien diesbezüglich noch am Laufen sind.

Defekte in den Genen von DNA-MMR oder Mikrosatelliten-Instabilität beim fortgeschrittenen Prostatakarzinom – ­Zugang zu neuen Therapien

Defekte in den Genen der DNA- MMR oder eine Mikrosatelliten-Instabilität wird bei 2–3% der Patienten mit fortgeschrittenem Prostatakarzinom nachgewiesen. Für diese Patienten besteht in einigen Ländern die Möglichkeit einer Immuntherapie mit einem Checkpoint-Inhibitor. Die «Food and Drug Administration» (FDA) hat die Therapie mit Pembrolizumab für alle fortgeschrittenen soliden Tumoren (bei Kindern und Erwachsenen) zugelassen, sofern der Nachweis eines Defektes in den MMR oder einer Mikrosatelliten-Instabilität erbracht wurde. Beim fortgeschrittenen Prostatakarzinom kann mit einer solchen Therapie bei 30–40% der Patienten ein relevantes und häufig lang andauerndes Ansprechen erreicht werden. Bislang ­besteht für diese Situation in der Schweiz noch keine Zulassung.
Bei Nachweis einer somatischen Mutation in einem der MMR-Gene (MLH1, MSH2, MSH6, PMS2) wird ebenfalls eine genetische Beratung und Keimbahntestung zum Ausschluss eines Lynch-Syndroms empfohlen.

Genetische Beratung und genetische Testung: Wer? Wann? Wie?

Die oben beschriebenen Entwicklungen erfordern analog zum Mamma- und Ovarialkarzinom eine möglichst einheitliche und klare Regelung, damit Patienten mit Prostatakarzinom einer genetischen Beratung und – bei vorliegendem Einverständnis – einer genetischen Testung zugeführt werden können [4, 5].
Es wird empfohlen, bei allen Prostatakarzinompatienten die Familienanamnese hinsichtlich Krebserkrankungen zu erheben. Bei gehäuftem Vorkommen von syndromspezifischen Krebserkrankungen (z.B. Prostata-, Mamma-, Ovarial-, Pankreas- oder Kolonkarzinom) wird eine genetische Beratung durch eine Fachperson empfohlen (Facharzt für medizinische Genetik oder Mitglied des CPTC der SAKK) [6, 7]. Bei etwa 40% der Männer mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Prostatakarzinom, bei denen eine Keimbahnmutation gefunden wird, liegt jedoch keine auffällige Familienanamnese vor. Auch werden mit ausschliesslicher Keimbahntestung bei etwa 10–15% der Männer mit fortgeschrittenem Prostatakarzinom therapierelevante somatische Mutationen verpasst. Somit wird in den revidierten Schweizer Richtlinien der SAKK empfohlen, bei Männern mit metastasiertem Prostatakarzinom oder bei cribriformer/intraduktaler Histologie vor allem in therapeutischer Hinsicht primär eine somatische molekularpathologische Untersuchung am T­umorgewebe durchführen zu lassen. Bei Prostatakarzinom und auffälliger Familienanamnese mit hoher Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Keimbahnmutation im BRCA1- oder BRCA2-Gen wird eine Keimbahntestung nach vorangehender genetischer Beratung klar empfohlen. Wichtig zu erwähnen ist auch, dass gewisse Keimbahnmutationen (z.B. grosse Deletionen) aus technischen Gründen bei somatischen molekularpathologischen Untersuchungen am Tumorgewebe («next generation sequencing» [NGS] ohne «multiplex ligation probe amplification» [MLPA]) teils nicht erkannt werden. Solche falsch negativen Befunde haben auch für die Familien der Betroffenen weitreichende Konsequenzen.

Somatische Mutationsanalyse an Tumor- oder Metastasengewebe

Die molekularpathologische Testung am Tumorgewebe kann durch ein Institut für Pathologie durch­geführt werden, die Verrechnung erfolgt via TARMED, eine vorangehende Kostengutsprache ist nicht nötig. Die Kosten für eine umfassende Panel-Testung liegen im Bereich von 3000 bis 4000 CHF. Der Patient sollte über die Analyse informiert werden und auch darüber, dass der Nachweis beispielsweise einer BRCA2-Mutation am Tumorgewebe ein Hinweis auf eine mögliche genetische Prädisposition sein kann (Tab. 2). Mit der Totalrevision des Gesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) wird eine Pflicht zur Aufklärung des Patienten über das Recht auf Nichtwissen beziehungsweise Überschussinformationen bei allen genetischen Untersuchungen geregelt werden, die Inkraftsetzung wird für 2022 erwartet.

Keimbahnverifizierung: gezielte Analyse einer somatischen Mutation

Wird bei der somatischen Testung im Tumorgewebe oder in der zirkulierenden Tumor-DNA eine genomische Alteration gefunden (z.B. in den Genen BRCA1, BRCA2, ATM, PALB2, CHEK2, MLH1, MSH2, MSH6, PMS2), so könnte es sich auch um eine für die Familie bedeutungsvolle Keimbahnmutation handeln. Bei der Keimbahnverifizierung wird mittels einer Blutprobe die im Tumor nachgewiesene Mutation in der Keimbahn ­gezielt bestätigt oder ausgeschlossen. Die Kosten für eine solche Untersuchung liegen im Bereich von 400 CHF. Vor einer Keimbahnverifizierung sind eine genetische Beratung und eine schriftliche Einwilligungserklärung des Patienten erforderlich. Ausserdem muss eine Kostengutsprache bei der Krankenkasse eingeholt werden.

Primäre genetische Testung der ­Keimbahn

Hier wird direkt mittels einer Blutprobe eine Keimbahnuntersuchung verschiedener Hochrisikogene veranlasst, abhängig auch von der Familienanamnese (Panel-Untersuchung z.B. mit BRCA1/2, CHEK2, ATM, PALB2, HOXB13). Für diese Untersuchung verweisen wir auf die Empfehlungen der SAKK-Arbeitsgruppe für ­genetische Beratung und Testung (Tab. 2). Sinnvoll ist es, diese Fälle mit einer Fachärztin oder einem Facharzt für medizinische Genetik zu besprechen. Die genetische Testung erfordert eine vorgängige genetische ­Beratung und eine unterzeichnete Einverständniserklärung des Patienten. Die Kosten betragen rund 3 000 CHF und sollten unbedingt vorher zum ­Zwecke der Kostengutsprache bei der Krankenkasse begründet werden.

Vorsorge bei gesunden Männern mit Nachweis einer BRCA1/2-Keimbahnmutation

Mit der Zunahme genetischer Beratungen und Testungen werden auch immer mehr gesunde Nachkommen identifiziert, die Träger einer pathogenen Mutation in einem Hochrisiko-Gen für Malignome, beispielsweise im BRCA1- oder BRCA2-Gen, sind. Die Vorsorgeempfehlungen umfassen je nach betroffenem Gen unterschiedliche Massnahmen und müssen individuell an einem spezialisierten Zentrum mit den Patienten ­besprochen werden. Für gesunde Männer, die Träger einer BRCA2-Mutation sind, wird eine Prostatakrebs-Früherkennung ab 40 Jahren empfohlen, für weitere Vorsorgemassnahmen siehe Tabelle 3.
Tabelle 3: Krebsvorsorge für Männer mit BRCA1/2-Keimbahnmutation.
VorsorgeuntersuchungBRCA1-KeimbahnmutationBRCA2-Keimbahnmutation
Mammakarzinom– Selbstuntersuchung der Brustdrüsen: 1× pro Monat ab 35 Jahren
– Ärztliche Untersuchung der Brustdrüsen: 1× pro Jahr ab 35 Jahren
– Mammographie bei Gynäkomastie: Baseline-Untersuchung mit 40 Jahren und 1× pro Jahr ab 50 ­Jahren
ProstatakarzinomKeine klare Empfehlung, gemeinsame Entscheidung mit betroffener Person (dann Vorgehen analog zu BRCA2):
– 1× pro Jahr PSA/DRU ab 40 Jahren
– MRT der Prostata bei PSA ≥2–3 μg/l
Empfohlen:
– 1× pro Jahr PSA/DRU ab 40 Jahren
– MRT der Prostata bei PSA ≥2–3 μg/l
MelanomGenerelle Empfehlungen für Hautschutz gemäss Krebsliga– Jährliche dermatologische Kontrolle
– Generelle Empfehlungen für Hautschutz gemäss Krebsliga
KolonkarzinomKolonkarzinom-Vorsorge optional ab 40 Jahren, ab 50 Jahren gemäss allgemeiner EmpfehlungKolonkarzinom-Vorsorge ab 50 Jahren gemäss allgemeiner Empfehlung
DRU: digitale rektale Untersuchung; PSA: prostataspezifisches Antigen; MRT: Magnetresonanztomographie.

Zusammenfassung

Die Entwicklungen der letzten Jahre haben zu einem relevanten Erkenntnisgewinn bezüglich der genetischen Prädisposition für ein Prostatakarzinom geführt. In der fortgeschrittenen Situation kommen mit den PARP-Inhibitoren zum ersten Mal bei dieser Erkrankung zielgerichtete Therapien bei molekularpathologisch prädefinierten Patienten zum Einsatz. Beim Prostatakarzinom ist jetzt eine gute interdisziplinäre und interprofessionelle Vernetzung sowie Kommunikation gefordert, um die vorhandenen Methoden und Mittel vernünftig und zielführend einzusetzen.

Das Wichtigste für die Praxis

• Beim metastasierten Prostatakarzinom finden sich in der somatischen molekularpathologischen Testung am Tumorgewebe in 15–30% relevante Veränderungen in DNA-Reparaturgenen oder DNA-Mismatch-Reparaturprotein-Genen beziehungsweise eine Mikrosatelliten-Instabilität, was eine Therapie mit einem PARP-Inhibitor, einer platinbasierten Chemo­therapie oder einem Checkpoint-Inhibitor ermöglichen kann. In der ­Regel werden diese Therapien frühestens nach Versagen einer neuen endokrinen Behandlung eingesetzt. Der Zulassungsstatus und die entsprechenden Limitationen sind zu beachten.
• Bei somatisch nachgewiesener Mutation in den Genen BRCA1, BRCA2, ATM, CHEK2, PALB2, MLH1, MSH2, MSH6 oder PMS2 sollte der Patient einer genetischen Beratung und einer Keimbahnverifikation zugeführt werden.
• In der Situation des metastasierten Prostatakarzinoms finden sich in circa 10% der Fälle Keimbahnmutationen in Krebsprädispositions-­Genen, am häufigsten in BRCA2, ATM, CHEK2 und BRCA1, die Konsequenzen für die erweiterte Familie haben. Eine Keimbahntestung erfordert eine vorgängige genetische Beratung und eine Kostengutsprache.
• Mit gesunden Trägern einer pathogenen Mutation im BRCA1- oder BRCA2-Gen sollte eine aktive und gezielte Krebsvorsorge besprochen werden. Gesunden Trägern einer Keimbahnmutation in einem Hochrisikogen sollte eine Beratung an einem spezialisierten Zentrum empfohlen werden.
Der Online-Appendix ist als separates Dokument verfügbar ­unter https://doi.org/10.4414/smf.2022.08858.
Die Autoren haben deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben. CR hat angegeben, Beraterhonorare von BMS, MSD Oncology, Roche Pharma AG, Bayer AG (jeweils zuhanden Institut) sowie Merck (Schweiz) AG erhalten zu haben, alle nicht in direktem Zusammenhang mit diesem Beitrag.
PD Dr. med. Aurelius Omlin
Klinik für Medizinische Onkologie und
Hämatologie
Kantonsspital St. Gallen
Rorschacher Strasse 95
CH-9007 St. Gallen
aurelius.omlin[at]kssg.ch
1 Stoll S, Unger S, Azzarello-Burri S, Chappuis P, Graffeo R, Pichert G, et al. Update Swiss guideline for counselling and testing for predisposition to breast, ovarian, pancreatic and prostate cancer. Swiss Med Wkly. 2021;151:w30038.
2 Pritchard CC, Mateo J, Walsh MF, De Sarkar N, Abida W, Beltran H, et  al. Inherited DNA-repair gene mutations in men with metastatic prostate cancer. N Engl J Med. 2016;375(5):443–53.
3 Hussain M, Mateo J, Fizazi K, Saad F, Shore N, Sandhu S, et al. Survival with Olaparib in metastatic castration-resistant prostate cancer. N Engl J Med. 2020;383(24):2345–57.
4 Daly MB, Pilarski R, Yurgelun MB, Berry MP, Buys SS, Dickson P, et al. NCCN guidelines insights: Genetic/familial high-risk assessment: Breast, ovarian, and pancreatic. Version 1.2020. J Natl Compr Canc Netw. 2020;18(4):380–91.
5 Giri VN, Knudsen KE, Kelly WK, Abida W, Andriole GL, Bangma CH, et al. Role of genetic testing for inherited prostate cancer risk: Philadelphia Prostate Cancer Consensus Conference 2017. J Clin Oncol. 2018;36(4):414–24.
6 Chappuis PO, Bolliger B, Bürki N, Buser K, Heinimann K, Monnerat C, et al. Swiss guidelines for counseling and testing. Genetic predisposition to breast and ovarian cancer. Swiss Group for Clinical Cancer Research (SAKK). 2018; online unter: https://www.sakk.ch/sites/default/files/2018-11/Swiss_guidelines_for_counseling_and_testing_for_genetic_predisposition_to_breast_and_ovarian_cancer.pdf; letzter Aufruf am 23.10.2021.
7 Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK). Genetische Beratung; Zentren der Schweiz. Online unter: https://www.sakk.ch/de/fuer-patienten/genetische-beratung; letzter Aufruf am 23.10.2021.