Ein Schwächezustand mit Folgen
Versäumte Diagnose
Peer-review

Ein Schwächezustand mit Folgen

Was ist Ihre Diagnose?
Ausgabe
2024/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2024.1207873630
Swiss Med Forum. 2024;24(13-14):187-189

Affiliations
Kantonsspital Winterthur, Winterthur: a Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie
b Klinik für Pneumologie
c Zentrum für Allgemeine Innere Medizin
d Klinik für Endokrinologie und Diabetologie

Publiziert am 27.03.2024

* Geteilte Erstautorschaft

Fallbeschreibung

Eine 23-jährige Patientin stellt sich bei uns auf der Notfallstation aufgrund einer akuten Verschlechterung eines seit Monaten progredienten Schwächezustandes mit Appetitlosigkeit, progredienter Muskelschwäche und Gewichtsverlust von circa 15 kg ohne Erbrechen oder Durchfall vor. Neu leidet die Patientin auch unter Unterbauchschmerzen. Die akute Verschlechterung des Schwächezustandes und die Unterbauchschmerzen seien nach einer COVID-Booster-Impfung aufgetreten, die fünf Tage vor dem Spitaleintritt durchgeführt wurde. Bei der Patientin ist seit schwerem Mobbing in der Kindheit eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung bekannt. Sie befindet sich in langjähriger psychologischer Behandlung und lebt in einem Wohnheim für psychisch erkrankte junge Erwachsene. Im Rahmen der obigen Symptomatik und bei diversen unauffälligen Abklärungen, kam es in den Wochen vor der Notfallvorstellung zu einer vollumfänglichen Beistandschaft durch die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) im Rahmen der psychiatrischen Grunderkrankung. Die Einnahme jeglicher Medikamente oder anderweitiger Substanzen wird verneint. Klinisch präsentiert sich die Patientin bei uns verlangsamt, mit Zittern des gesamten Körpers und Hypotonie (minimaler Blutdruck 67/47 mm Hg) sowie Tachykardie. Bei der abdominellen Palpation findet sich eine diffuse Druckdolenz im Unterbauch ohne Peritonismus. Es fällt zudem ein blasses Hautkolorit mit Hyperpigmentierungen im Bereich alter Narben an den Armen auf.
Frage 1
Welche paraklinische Untersuchung erscheint Ihnen zu diesem Zeitpunkt am sinnvollsten?
a) Blutgasanalyse und Elektrokardiogramm
b) Laboranalytische Bestimmung der Entzündungsparameter
c) Drogen-Screening im Urin
d) Computertomographie des Abdomens
e) Alle oben genannten
Bei zunehmend kreislaufinstabiler Patientin mit Hypotonie und Tachykardie ist die Blutgasanalyse als erster diagnostischer Schritt rasch verfügbar. Es imponieren eine Hypoglykämie, eine schwere Hyponatriämie sowie eine Hyperkaliämie. Zudem finden sich eine Hyperkalzämie und eine leichte hyperchloräme Azidose. Aufgrund der Tachykardie und der Dyselektrolytämie gehört ein Elektrokardiogramm (EKG) zur weiteren Abklärung sicherlich dazu.
In der ergänzenden Labordiagnostik ist das Parathormon (PTH) adäquat supprimiert und das Thyreoidea-stimulierende Hormon (TSH) deutlich erhöht, bei allerdings normwertigen peripheren Schilddrüsenwerten. Es zeigen sich zusätzlich eine akute Niereninsuffizienz und ein Entzündungszustand. Die Transaminasen und Cholestaseparameter sind nicht relevant erhöht (Tab. 1).
Wegen starker diffuser Unterbauchschmerzen mit Druckdolenz, erhöhten C-reaktiven Proteins (CRP) und Kreislaufinstabilität wird ein Computertomogramm (CT) des Abdomens angefertigt, in dem sich keine ursächliche Pathologie zeigt. Die Patientin verneint jegliche Substanzeinnahme. Ein Drogen-Screening im Urin erfolgt nicht, gehört zu den Differentialdiagnosen aber sicherlich dazu.
Frage 2
Welche Diagnose ist am wahrscheinlichsten?
a) Nebenniereninsuffzienz
b) Hypothyreose
c) Insulinom
d) Akute Nebenwirkung der COVID-Booster-Impfung
e) Sepsis bei abdominellem Infekt
Aufgrund der Anamnese (schleichende Verschlechterung des Allgemeinzustandes über Monate, Appetit- und Gewichtsverlust, diffuse Abdominalschmerzen), des klinischen Status (Schläfrigkeit, Hypotonie, Tachykardie, Hyperpigmentation im Bereich von Narben) und der Laboranalyse (Hyperkaliämie, Hyponatriämie und PTH-unabhängiger Hyperkalzämie) ist die Diagnose einer Nebenniereninsuffizienz (NNI) mit Addison-Krise am wahrscheinlichsten. Bei einem Insulinom tritt lediglich eine Hypoglykämie auf, jedoch nicht die übrigen Elektrolytstörungen. Die subklinische Hypothyreose erklärt das Ausmass der Symptomatik und insbesondere die Tachykardie sowie den Gewichtsverlust nicht. Eine direkte Nebenwirkung der COVID-Booster-Impfung mit hämodynamischer Instabilität und schwerster Dyselektrolytämie nach fünf Tagen scheint wenig plausibel. Bei unauffälligem CT, fehlendem Infektfokus und längerer Vorgeschichte der Beschwerden ist eine Sepsis unwahrscheinlich.
Frage 3
Welchen laboranalytischen Marker bestimmen Sie als nächste?
a) Cortisol
b) Adrenocorticotropin (ACTH)
c) Aldosteron/Renin
d) Anti-21-Hydroxylase-Antikörper
e) Thyreoperoxidase-(TPO-)Antikörper
Als unmittelbar nächster Wert sollte das Cortisol bestimmt werden, das hier – wie zu erwarten – nicht nachweisbar tief ist. Zur Differenzierung der primären versus sekundären NNI ist danach die Bestimmung von ACTH sowie Aldosteron/Renin notwendig. Die Konzentration von ACTH ist massiv erhöht und das Aldosteron nicht messbar tief, somit handelt es sich um eine primäre NNI (Tab. 2).
In 80–90% der Fälle liegt die Ursache des Morbus Addison in einer Autoimmunadrenalitis. Zur Überprüfung sollten die Anti-21-Hydroxylase-Antikörper bestimmt werden. Diese sind hier ebenfalls deutlich erhöht, womit die Diagnose einer primären, autoimmunen NNI gesichert ist. Die TPO-Antikörper können in der Differentialdiagnose von Schilddrüsenfunktionsstörungen hilfreich sein.

Behandlung

Frage 4
Wie würden Sie nach initialer Stabilisierung mittels Volumengabe weiterbehandeln?
a) Prednisolon 1000 mg als intravenöse Stosstherapie
b) Hydrocortison 20 mg per os
c) Hydrocortison 100–200 mg intravenös
d) Hydrocortison 20 mg per os und Levothyroxin per os
e) Hydrocortison 100 mg intravenös und Levothyroxin per os
Im Falle einer Addison-Krise steht die initiale Stabilisierung mittels Volumengabe und, falls nötig, mit Katecholaminen an erster Stelle, gefolgt von einer möglichst raschen Substitution mit Cortisol in Stressdosis. Eine Behandlung mit hoch dosiertem, intravenösem Prednisolon ist typischerweise für akute, schwere Entzündungen primär aus dem neurologischen (Multiple Sklerose) oder dem rheumatologischen Formenkreis reserviert. Bei der primären NNI, auch wenn eine Adrenalitis die Ursache ist, geht es nicht um die Behandlung der Entzündung, sondern um die Substitution des lebensnotwendigen Cortisols.
Hydrocortison per os ist die designierte Langzeittherapie bei stabilem Verlauf einer NNI. Üblicherweise werden Tagesdosierungen von 10–30 mg benötigt. Bei der lebensbedrohlichen Addison-Krise ist die intravenöse Verabreichung von hoch dosiertem Hydrocortison angezeigt. Wir behandeln unsere Patientin mit einem initialen Bolus von 100 mg intravenös, gefolgt von einer Dauerinfusion mit 100 mg über 24 Stunden.
Obwohl das TSH doch deutlich erhöht ist, interpretieren wir dies im Rahmen der TSH-Enthemmung bei Cortisol-Mangel und verzichten auf den Therapiebeginn bei möglicher Hypothyreose.

Prognose

Frage 5
Welche Aussage zur Prognose für unsere Patientin trifft nicht zu?
a) Es besteht ein erhöhtes Risiko für Komplikationen bei Infekten.
b) Es besteht ein erhöhtes Risiko für andere Autoimmunerkrankungen.
c) Nach Behandlung der Adrenalitis kommt es zur Restitutio ad integrum.
d) Eine lebenslange Therapie ist notwendig.
e) Die psychiatrische Erkrankung ist unabhängig von der NNI.
Solange eine NNI persistiert, besteht bei jeglicher Stresssituation aufgrund des erhöhten Cortisol-Bedarfs das Risiko einer erneuten Addison-Krise. Hierzu zählen insbesondere auch eigentlich banale Infektionen. Patientinnen und Patienten mit Autoimmunadrenalitis haben ein erhöhtes Risiko für weitere Autoimmunerkrankungen wie Autoimmunthyreopathien, perniziöse Anämie oder Diabetes mellitus Typ 1 [1]. Eine Autoimmunadrenalitis kann auch Teil eines polyglandulären Autoimmunsyndroms sein.
Therapeutisches Ziel bei primärer NNI ist das Verhindern von Mangelsymptomen durch Substitution mit Hydrocortison. Die Destruktion der Nebenniere durch die Entzündung kann nicht rückgängig gemacht werden, in der Folge besteht in der Regel eine lebenslange Therapieindikation.
Die psychiatrische Grunderkrankung unserer Patientin trat viele Jahre vor der NNI auf. Wir gehen deshalb davon aus, dass es sich hierbei um zwei voneinander unabhängige Erkrankungen handelt. Bekannt ist aber, dass insbesondere psychotische Symptome unter hoch dosierter Steroidtherapie exazerbieren können, wie dies auch bei unserer Patientin mit deutlich verstärkten Wahnvorstellungen unter Hydrocortison intravenös beobachtet werden kann.

Diskussion

Eine NNI wird häufig bei diversen diffusen Symptomen gesucht. Die eigentlichen Kardinalsymptome einer NNI sind neben allgemeiner Müdigkeit insbesondere ein ausgeprägter Gewichtsverlust und Appetitlosigkeit [2–4]. Im vorliegenden Fall präsentiert sich das Vollbild einer invalidisierenden primären NNI autoimmuner Genese. Aufgrund der zeitlichen Korrelation scheint es möglich, dass die COVID-19-Booster-Impfung zu einer Aktivierung des Immunsystems und somit auch zu einer Exazerbation der vorbestehenden autoimmunen Entzündung der Nebennieren geführt hat. Schliesslich ergab die manifeste Addison-Krise die Diagnosestellung der primären autoimmunen NNI.
Aufgrund der langjährigen psychiatrischen Vorerkrankung lag die Annahme nahe, dass auch die Zustandsverschlechterung in den sechs Monaten vor der Hospitalisation psychiatrisch begründet war. In der psychiatrisch-fachärztlichen Untersuchung war diese These durch die zusätzliche Diagnosestellung einer Borderline- und schizoaffektiven Störung weiter unterstützt worden, sodass eine NNI trotz grundlegender somatischer Abklärung nicht gesucht und nicht gefunden wurde. Der Entscheid der KESB für eine vollumfängliche Beistandschaft ist vor diesem Hintergrund nachvollziehbar.
Rückblickend lässt sich konstatieren, dass der Grossteil der Symptomatik der letzten sechs Monate vor der Hospitalisation mit der primären NNI erklärbar war und sich durch Einleitung einer Glukokortikoid- und Mineralokortikoidsubstitution rückläufig zeigte. Die Schilddrüsenwerte normalisierten sich nach Beginn der Steroidsubstitution. In der ambulanten Weiterbetreuung persistierten aber eine Müdigkeit und Antriebslosigkeit, die wir als durch die psychiatrische Erkrankung bedingt sehen.
Antworten
Frage 1: e. Frage 2: a. Frage 3: a. Frage 4: c. Frage 5: c.
Pascal Nyffenegger, dipl. Arzt Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie, Kantonsspital Winterthur, Winterthur
Paula Hauser, dipl. Ärztin Klinik für Pneumologie, Kantonsspital Winterthur, Winterthur
Pascal Nyffenegger
Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie
Kantonsspital Winterthur
Brauerstrasse 15, Postfach
CH-8401 Winterthur
pascal.nyffenegger[at]ksw.ch
1 Zelissen PM, Bast EJ, Croughs RJ. Associated autoimmunity in Addison’s disease. J Autoimmun. 1995;8(1):121–30.
2 Bancos I, Hahner S, Tomlinson J, Arlt W. Diagnosis and management of adrenal insufficiency. Lancet Diabetes Endocrinol. 2015;3(3):216–26.
3 Erichsen MM, Løvås K, Skinningsrud B, Wolff AB, Undlien DE, Svartberg J, et al. Clinical, immunological, and genetic features of autoimmune primary adrenal insufficiency: observations from a Norwegian registry. J Clin Endocrinol Metab. 2009;94(12):4882–90.
4 Mitchell AL, Pearce SH. Autoimmune Addison disease: pathophysiology and genetic complexity. Nat Rev Endocrinol. 2012;8(5):306–16.
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