Patientenverfügung: wann und wofür?
Schlaglicht: Intensivmedizin

Patientenverfügung: wann und wofür?

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2023/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09278
Swiss Med Forum. 2023;23(04):866-867

Affiliations
a Klinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Rettungs- und Schmerzmedizin, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen; b Pflege und Betreuung, Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen; c Intensivstationen Pädiatrie und Neonatologie, Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB), Basel; d Interdisziplinäre Intensivstation, Spital Thun, Thun

Publiziert am 25.01.2023

Eine rechtzeitige, reflektierte gesundheitliche Vorausplanung erlaubt auch im Falle eines Verlustes der Urteilsfähigkeit ein Leben und Sterben in Selbstbestimmung.

Hintergrund

Der Bundesrat hat dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) und der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) den Auftrag erteilt, die gesundheitliche Vorausplanung (GVP) in der Schweiz zu stärken und möglichst alle Bevölkerungsschichten für die Thematik einer selbstbestimmten Gesundheitsversorgung zu sensibilisieren [1]. «Eine aktive Beteiligung der Patientinnen und Patienten und ihrer Angehörigen an den Therapieentscheidungen» entspricht auch einem Kernanliegen der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) [2]. In der Umsetzung einer wirkungsvollen GVP kommt den in der Grundversorgung tätigen Ärztinnen und Ärzten eine Schlüsselrolle zu. Anhand von drei Fallvignetten zeigen wir auf, wie die GVP uns auf Intensivstationen tätigen Pflegenden und Ärztinnen und Ärzten hilft, Behandlungsstrategien auf die Wünsche von urteilsunfähigen Patientinnen und Patienten abzustimmen.
Die Patientenverfügung bildet ein wesentliches Kernelement der gesundheitlichen Vorausplanung.
© Gajus / Dreamstime

GVP am Beispiel dreier Fallvignetten

Fallvignette 1

Ein 22-jähriger Mann erleidet im Rahmen eines Fahrradunfalls ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Er lebt in einer Wohngemeinschaft und hat seit Kurzem eine Freundin. Die Eltern sind geschieden; mit dem Vater hat er keinen Kontakt und mit der Mutter ein angespanntes Verhältnis. Die Schwester trifft er regelmässig.

Fallvignette 2

Bei einer 70-jährigen, bisher gesunden, alleinstehenden Frau wird im Rahmen einer Anämieabklärung ein Rektumkarzinom diagnostiziert. Es wird eine Rektumamputation empfohlen.

Fallvignette 3

Ein 87-jähriger Mann, der trotz seiner Parkinson-Erkrankung für seine an Demenz erkrankte Frau sorgt, steht kurz vor dem gemeinsamen Umzug in ein Pflegeheim.
Die Patientenverfügung (PV) ist gesetzlich verankert [3] und bildet ein wesentliches Kernelement der GVP. Deren Konzept unterscheidet verschiedene Prozessphasen, die den gesundheitlichen und sozialen Lebensumständen Rechnung tragen. Menschen, die an Mehrfacherkrankungen leiden oder vor grösseren Interventionen stehen (Fallvignette 2), sollen sich vertieft mit Werten und Lebensplänen auseinandersetzen («Was macht mein Leben lebenswert?»). Menschen, bei denen das Lebensende absehbar ist (Fallvignette 3), werden eingeladen, sich Gedanken zu Ort und Ausmass sowie Ziel einer Behandlung im Sinne des Advance Care Planning zu machen und die Entscheidungen in einer «ärztlichen Notfallanordnung» zu dokumentieren. Für einen gesunden, jungen Menschen (Fallvignette 1) ist dies nicht sinnhaft. Hingegen sind die Benennung einer Vertretungsperson sowie die Klärung der Haltung zu einer allfälligen Organspende von grosser Bedeutung.

Fallvignette 1 – Fortsetzung

Kurz nach der Aufnahme des Patienten auf die Notfallstation stellt sich die Frage nach einer Kraniektomie. Das Behandlungsteam kann keine eindeutig vertretungsberechtigte Person eruieren und führt den Eingriff notfallmässig «nach dem mutmasslichen Willen (…) der urteilsunfähigen Person.» [4] durch.
In den nächsten Tagen kann die Schwester als vertretungsberechtigt identifiziert werden [5]. Trotz intensiver Betreuung ist der weitere Verlauf ungünstig; in der Gesamtschau aller Befunde ergibt sich eine infauste Prognose. Es stellt sich die Frage nach einer möglichen Organspende. Weder die Schwester des Patienten noch seine Freundin kennen seine diesbezügliche Haltung und lehnen eine Organspende ab.

Kommentar

Zu Beginn der Hospitalisation war keine vertretungsberechtigte Person identifizierbar; ein kurzer schriftlicher Vermerk (datiert, unterschrieben und gut auffindbar) hätte rasche Klärung gebracht. Leider kannten die Angehörigen die Haltung zu einer möglichen Organspende nicht. Ein Gespräch, ein schriftlicher Hinweis (auch als Spenderausweis) hätten Klarheit geschaffen und die Angehörigen entlastet.

Fallvignette 2 – Fortsetzung

Nach ausführlichen Gesprächen mit dem Hausarzt und den Spezialisten stimmt die Patientin der vorgeschlagenen Therapie zu. Sie lässt sich auch bezüglich GVP beraten und erstellt eine PV, in der sie dem vorübergehenden Einsatz organerhaltender Therapien zustimmt, solche aber im Falle einer längerdauernden Urteilsunfähigkeit ablehnt.
Der perioperative Verlauf wird durch ein Nierenversagen und ein Delir kompliziert. Aufgrund der PV entscheiden sich die Behandelnden bei an sich günstiger Prognose für den Einsatz eines Nierenersatzverfahrens. Das Delirium erholt sich schon nach wenigen Tagen und die Nierenfunktion nach zwei Wochen.

Kommentar

Die PV erlaubte es dem Behandlungsteam trotz vorübergehender Urteilsunfähigkeit den Behandlungswünschen der Patientin nachzukommen. Es war aber auch klar, was im Falle eines ungünstigen Verlaufes hätte getan werden müssen.

Fallvignette 3 – Fortsetzung

Im Vorfeld des Umzugs erstellt der Mann mit Hilfe des Hausarztes eine PV und einen ärztlichen Notfallplan. Die Anordnungen werden beim Heimeintritt nochmals mit dem Patienten diskutiert und konkretisiert.
Einige Wochen danach tritt bei ihm eine schwere Pneumonie auf. Der nun nicht mehr urteilsfähige Patient wird seinem vorausbestimmten Willen gemäss zwar ins Spital gebracht, wo eine intravenöse antibiotische Therapie eingeleitet wird. Hingegen entspricht eine Aufnahme auf eine Intensivstation explizit nicht seinem Wunsch. Er erholt sich auf der Bettenstation und kann nach einer Woche in das Heim zurückkehren.

Kommentar

Dem Spitalteam fiel es nicht schwer, den festgelegten Willen des Patienten zu befolgen. Obwohl die Schwere der Pneumonie eine Aufnahme auf eine Intensivstation gerechtfertigt hätte, kam eine solche nicht infrage.

Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte

In der GVP kommt der fachlichen Unterstützung und Beratung in der Entscheidungsfindung eine Schlüsselrolle zu. Diese kann durch ärztliche und nicht ärztliche Fachpersonen erfolgen, setzt aber in jedem Fall profunde Kenntnisse über Krankheitsbilder, Therapiemöglichkeiten und Behandlungsoptionen voraus. Werden komplexe Entscheidungen ohne fachliche Beratung gefällt, könnten sich die Behandlungsteams mit unlösbaren und widersprüchlichen Vorgaben konfrontiert sehen. Das Thema GVP kann anlässlich jeder Konsultation durch die Hausärztin oder den Hausarzt aufgegriffen werden. Ganz besonders muss dies bei der Diagnosestellung neuer, prognoserelevanter Erkrankungen oder im Vorfeld ausgedehnter oder invasiver Therapien (Chemotherapie, grössere operative Eingriffe etc.) geschehen. Möglicherweise sind dazu auch mehrere Besprechungen notwendig. Auch Schicksalsschläge oder Änderungen der Lebensumstände können Anlass für eine medizinische Bestandsaufnahme im Sinne der GVP sein.
Von grosser praktischer Bedeutung ist die Dokumentation. Der Gesetzgeber hat die formalen Hürden tief gehalten: Datum und Unterschrift reichen für eine rechtsgültige PV aus [6]. Dieses Schriftstück muss im Notfall rasch auffindbar sein, entsprechend muss auch der Aufbewahrungsort gewählt und den Angehörigen bekannt gemacht werden. Diverse Organisationen haben Formulare zur Verfassung einer PV erstellt, so zum Beispiel auch die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) [7].
Die Beschäftigung mit Krankheit, Verlust an Selbstständigkeit und Autonomie oder Tod fallen uns schwer, sind aber für ein Leben und Sterben in Selbstbestimmung unverzichtbar; die diesbezügliche Sensibilisierung der Bevölkerung ist Aufgabe aller im Gesundheitswesen tätigen Personen. Den Grundversorgerinnen und -versorgern kommt eine Schlüsselrolle zu, kennen sie doch nicht nur die medizinischen Konsequenzen von vorausbestimmten Therapieentscheidungen, sondern auch die psychosoziale Situation und Werthaltung ihrer langjährigen Patientinnen und Patienten.
Prof. Dr. med. Miodrag Filipovic
Klinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Rettungs- und Schmerzmedizin, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen
Alle Autoren sind Vorstandsmitglieder der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI), AH zudem aktuelle Prädidentin. MF ist ausserdem Vorstandsmitglied der SAMW und Mitglied der Arbeitsgruppe GVP von BAG/SAMW. AH ist zudem Mitglied der Zentralen Ethikkommission der SAMW.
Prof. Dr. med. Miodrag Filipovic
Klinik für Anästhesiologie,
Intensiv-, Rettungs- und Schmerzmedizin
Kantonsspital St. Gallen
CH-9007 St. Gallen
1 Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Gesundheitliche Vorausplanung. https://www.samw.ch/de/Ethik/Themen-A-bis-Z/Gesundheitliche-Vorausplanung.html; Zugriff am 05.10.2022
2 Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin. Unser Profil. https://www.sgi-ssmi.ch/de/unser-profil.html; Zugriff am 05.10.2022
3 Art. 370, 371 Schweizerisches Zivilgesetzbuch (ZGB)
4 Art. 379 ZGB
5 Art. 378 ZGB
6 Art. 371 ZGB
7 Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). Patientenverfügung. https://www.fmh.ch/dienstleistungen/recht/patientenverfuegung.cfm; Zugriff am 05.10.2022