Quo usque tandem – wie lange noch?
ACE-Hemmer

Quo usque tandem – wie lange noch?

Aktuell
Ausgabe
2022/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09227
Swiss Med Forum. 2022;22(41):678-680

Affiliations
a Herz Gefäss Zentrum, Universitätsklinik für Kardiologie, Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern; b Klinik für Kardiologie, Kantonsspital Winterthur, Winterthur; c University of Bern, Department for BioMedical Research (DBMR), Bern

Publiziert am 12.10.2022

Angiotensin-Converting-Enzyme-Hemmer und Angiotensin-Rezeptor-Blocker sind in puncto Effizienz gleichwertig, nicht aber im Hinblick auf die Nebenwirkungen. Wird es Zeit, den Klinikalltag anzupassen?

Der Sicherheit einer blutdrucksenkenden Therapie sollte höchste Beachtung geschenkt werden.
© Mariano Heluani / Dreamstime
Unsere moderne Medizin beruht berechtigterweise auf prospektiven, randomisierten Studien. Vorausgesetzt, sie werden richtig und sorgfältig durchgeführt, ist der Erkenntnisgewinn unverzerrt. Allerdings lässt sich der Ausgang einer randomisierten, prospektiven Studie kaum voraussagen. Die Studie VALUE («Valsartan Antihypertensive Long-term Use Evaluation»), die stolze 15 245 Personen einschloss, hatte sich ursprünglich zum Ziel gemacht zu zeigen, dass «bei gleicher Blutdrucksenkung eine Valsartan-basierte Therapie einer Amlodipin-basierten Therapie bezüglich kardialer Mortalität und Morbidität überlegen sei» [1]. Aus Sicht der Sponsoren war es sicherlich enttäuschend, feststellen zu müssen, dass in der Studie Myokardinfarkte (MI) 19% häufiger in der Valsartan-Gruppe als in der Amlodipin-Gruppe auftraten. Es verwundert auch nicht, dass der Hersteller von Amlodipin hocherfreut über diese Zahlen war und sich natürlich dafür einsetzte, diese aus seiner Sicht günstigen Studienergebnisse zu verbreiten.
Nun ergab sich jedoch ein weiteres Problem: In der vorgängigen Studie HOPE («Heart Outcomes Prevention Evaluation») hatten die Angiotensin-Converting-Enzyme-(ACE-)Hemmer bemerkenswerte kardioprotektive Eigenschaften aufgezeigt. Das nun diesbezüglich schlechtere Abschneiden von Valsartan gegenüber Amlodipin schob man primär auf die Angiotensin-Rezeptor-Blocker (ARB) als Substanzklasse.
In einem begleitenden Editorial wurde gewarnt, dass die Klasse der ARB «zu mehr MI [Myokardinfarkten] führen könnte[n] – und Patienten hierüber aufgeklärt werden müssen» [2]. Diese alarmierende Botschaft führte zum sogenannten «MI-Paradoxon» der ARB, nämlich dass diese, obwohl sie den Blutdruck senken, das Risiko für MI nicht verringern, sondern vielleicht sogar erhöhen könnten.
Klar ist, dass diese Hypothese im Jahr 2004, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der VALUE-Studie, möglich erschien, da prospektive randomisierte Daten zu ARB dünn gesät waren. Mittlerweile wurden jedoch die Ergebnisse einer Menge solider Outcome-Studien veröffentlicht, die dieses MI-Paradoxon der ARB infrage stellen – was wir schon vor gut einem Jahrzehnt konstatieren konnten [3].
Darüber hinaus konnten wir in einer umfassenden Metaanalyse aus 106 randomisierten Studien, die insgesamt 254 301 Personen einschloss [4], zeigen, dass placebokontrollierte, aktiv kontrollierte und Kopf-an-Kopf-randomisierte Studien ergaben, dass ARB genauso effizient und sicher sind wie ACE-Hemmer, aber deutlich weniger Nebenwirkungen zeigen und ein geringeres Risiko für die Entwicklung eines Angioödems aufweisen.
Mit diesen Ergebnissen deckt sich auch die Analyse eines neuen, umfassenden Datensets von Chen et al. [5]. Aus acht Datenbanken konnten die Autorinnen und Autoren 2 297 881 Personen herausfiltern, die ACE-Hemmer erhielten, und 673 938 mit ARB. Sie fanden keinen statistisch signifikanten Unterschied im primären Ergebnis, dem Auftreten von akutem MI (Hazard Ratio [HR] 1,11 für ACE-Hemmer gegenüber ARB; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,95–1,32). Ebenso zeigten sich keine Unterschiede bezüglich Herzinsuffizienz, Schlaganfall oder kombinierter kardiovaskulärer Ereignisse zwischen den zwei Substanzklassen.
Chen et al. schlossen aus ihrer Studie, dass «ARB sich als Klasse statistisch nicht signifikant von ACE-Hemmern in Hinblick auf ihre Effektivität als First-Line-Therapie zur Behandlung der arteriellen Hypertonie unterscheiden und darüber hinaus ein besseres Sicherheitsprofil vorweisen können». Wie in unserer Grafik (Abb. 1) ersichtlich, sind die Effektschätzungen in den zwei grossen, unabhängigen Studien auffallend ähnlich.
Abbildung 1: Angiotensin-1-Rezeptorblocker (AT1-Antagonist) zeigten im Vergleich zum Angiotensin-Converting-Enzyme-(ACE-)Hemmer eine ähnliche Effizienz hinsichtlich kardiovaskulärer Mortalität, Myokardinfarkt, Schlaganfall und Nierenerkrankung im Endstadium. NIED: ​Niereninsuffizienz-Endstadium; NI: Niereninsuffizienz; DM: Diabetes mellitus; RR: relatives Risiko; KI: Konfidenzintervall. Datenmaterial von Bangalore et al. [1] und Chen et al. [2]. Bei den 7 Vergleichsstudien aus der Metaanalyse von Bangalore et al. handelt sich ausschliesslich um Kopf-an-Kopf-Studien, d.h. Studien, bei denen die beiden Antihypertensiva im gleichen Patientengut direkt gegeneinander verglichen worden sind. (Aus: Messerli FH, Bavishi C, Bangalore S. Why Are We Still Prescribing Angiotensin-Converting Enzyme Inhibitors? Circulation. 2022;145(6):413–5.)
© 2022 American Heart Association, Inc. Nachdruck, Modifikation und Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Wolters Kluwer Health, Inc. https://www.ahajournals.org/journal/circ
Kurz gesagt: ARB reduzieren das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse, auch das für MI, ebenso effizient wie ACE-Hemmer, sind aber deutlich sicherer und besser verträglich.
Es bleibt anzumerken, dass das sogenannte MI-Paradoxon rein auf indirekten Vergleichen beruhte und ausschliesslich den sogenannten Generationenkonflikt zwischen den beiden Studiengruppen widerspiegelte. Denn die entsprechenden Studien für ACE-Hemmer wurden ungefähr ein Jahrzehnt früher durchgeführt. Das heisst, dass bei ACE-Hemmer-Studien eine gleichzeitige Statin-Therapie dezidiert weniger üblich war und Personen in der Placebogruppe daher ein wesentlich höheres Risiko aufwiesen, als es dann später in den ARB-Gruppen der Fall war.
Die Autorinnen und Autoren untersuchten auch 51 sekundäre respektive Sicherheits-Ergebnisse (u.a. Angioödeme, Husten, Synkope und Elektrolytstörungen). Patientinnen und Patienten mit ACE-Hemmern zeigten ein signifikant höheres Risiko für Angioödeme, Husten, Pankreatitis und gastrointestinale Blutungen als diejenigen mit ARB. Angioödeme waren unter ACE-Hemmern sogar dreimal häufiger als unter ARB (HR 3,31; 95%-KI 2,55–4,51; p <0,01). Dieser Unterschied fällt zudem vor allem bei dunkelhäutigen Menschen auf. Dieser Nebenwirkung ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken, da sie mitunter einen tödlichen Verlauf nehmen kann.
Auch wenn Todesfälle selten sind, so werden ACE-Hemmer doch täglich an Millionen von Menschen verabreicht, sodass davon auszugehen ist, dass jährlich mehrere hundert Todesfälle auf die Gabe von ACE-Hemmern zurückzuführen sind [6].
Dass es sich hierbei nicht nur um hypothetische Zahlen handelt, wird dadurch unterstrichen, dass zum Beispiel in der Studie ALLHAT («Antihypertensive and Lipid-Lowering treatment to prevent Heart Attack Trail») der ACE-Hemmer mit einem Fall von tödlichem Angioödem assoziiert war [7], oder mit dem Bericht eines Gerichtsmediziners, der sieben Erstickungstodesfälle durch ACE-Hemmer in einem Zeitraum von drei Jahren festgestellt hatte [8]. Diesen potentiell tödlichen Nebenwirkungen zum Trotz haben sich ACE-Hemmer gut gehalten und werden wesentlich häufiger als ARB zur Behandlung der arteriellen Hypertonie verschrieben – Lisinopril ist sogar immer noch das meistverschriebene blutdrucksenkende Medikament der Welt. Allein in den USA werden jährlich immer noch über 90 Millionen Lisinopril-Rezepte ausgestellt [9].
Mittlerweile betrachten die meisten Guidelines ACE-Hemmer und ARB als äquivalent bezüglich Blutdrucksenkung und des Risikos von MI, Herzinsuffizienz, Schlaganfall und Mortalität. Erstaunlicherweise wird jedoch dem jeder Klinikerin und jedem Kliniker bekannten Unterschied bezüglich Nebenwirkungen und Verträglichkeit kaum Rechnung getragen.
Nun sollte man nicht meinen, dass man den historischen Kontext des MI-Paradoxons mittlerweile erkannt hätte: Sogar noch 2017 gab ein Artikel folgende Autorenmeinung über das MI-Paradoxon zum Besten [10]: «Die Logik diktiert, dass praktische Guidelines den einzigartigen kardiovaskulären Benefit der ACE-Hemmer und damit ihre bevorzugte Verwendung gegenüber ARB anerkennen sollten! Würde eine solche Empfehlung gegeben, wäre die prognostizierte Auswirkung auf die Zahl der geretteten Leben enorm.»
Ganz im Gegenteil finden wir, dass sich in Anbetracht der Gesamtheit der Daten, also unserer Metaanalyse und der provokanten Studienergebnisse von Chen et al. folgern lässt: Um die Zahl der geretteten Leben zu erhöhen, sollten ACE-Hemmer konsequent vermieden und stattdessen ARB verabreicht werden!
Zu bedenken ist auch die soeben publizierte Studie von Deng et al. [11]. Die Autorinnen und Autoren zeigten bei über 400 Personen mit einer Hypertonie und milden kognitiven Beschränkungen, dass ARB mit einem deutlich geringeren Risiko der Progression zur Demenz einhergingen im Vergleich zu ACE-Hemmern (adjusted HR 0,45; 95%-KI 0,25–0,81; p = 0,023) und anderen Klassen von Antihypertensiva wie Betablockern, Kalziumantagonisten und Diuretika.
Der Sicherheit einer blutdrucksenkenden Therapie sollte höchste Beachtung geschenkt werden – insbesondere auch in Hinblick darauf, dass in der letzten Metaanalyse der BPLTTC («The Blood Pressure Lowering Treatment Trialists‘ Collaboration») gezeigt wurde, dass die meisten Personen über 40 Jahre Blutdruckwerte haben, die von einer antihypertensiven Therapie profitieren würden [12, 13].
Die Tatsache, dass nun viele von uns immer noch vorwiegend ACE-Hemmer verschreiben, kann wohl damit zu tun haben, dass im Klinikalltag noch und noch doziert wurde, dass diese Substanzklasse einzigartige kardioprotektive Eigenschaften aufweise – ganz im Sinne des Zitats «Überzeugungen sind oft die gefährlichsten Feinde der Wahrheit!» von Friedrich Nietzsche. Dem ist sicher heute nicht mehr so. Die aktuelle Datenlage zeigt, dass ACE-Hemmer und ARB in puncto Effizienz und Ergebnisse gleichwertig sind, aber eben in Hinblick auf die Nebenwirkungen nicht. In letzter Konsequenz heisst das, dass es heutzutage keinen triftigen Grund mehr gibt, unsere Patientinnen und Patienten den schädlichen Nebenwirkungen von ACE-Hemmern auszusetzen.
Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag, der im Februar 2022 im Circulation publiziert wurde: Messerli FH, Bavishi C, Bangalore S. Why Are We Still Prescribing Angiotensin-Converting Enzyme Inhibitors? Circulation. 2022;145(6):413–15. © 2022 American Heart Association, Inc. Modifikation und stellenweise direkte Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Wolters Kluwer Health, Inc. https://www.wolterskluwer.com/en/health
Dr. med. univ. (RO) Alexandra-Maria Neagoe
Herz Gefäss Zentrum, Universitätsklinik für Kardiologie, Inselspital, Bern
Prof. Dr. med. Franz H. Messerli
University of Bern
Department for BioMedical Research (DBMR)
Murtenstrasse 28
CH-3008 Bern
Julius S, Kjeldsen SE, Weber M, Brunner HR, Ekman S, Hansson L, et al. Outcomes in hypertensive patients at high cardiovascular risk treated with regimens based on valsartan or amlodipine: the VALUE randomised trial. Lancet. 2004;363(9426):2022–31.
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