Placebo und Nocebo: Wissen und Skills für die künftigen Ärztinnen und Ärzte
Was braucht es in der Praxis?

Placebo und Nocebo: Wissen und Skills für die künftigen Ärztinnen und Ärzte

Kommentar
Ausgabe
2022/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09129
Swiss Med Forum. 2022;22(40):658-659

Publiziert am 05.10.2022

Was braucht es in der Praxis?

Es ist wichtig, die aktuellen Kenntnisse über Placebo und Nocebo auch in die studentische Ausbildung zu implementieren.
© Katarzyna Bialasiewicz / Dreamstime
In der vorliegenden Ausgabe des Swiss Medical Forum fassen Koné et al. [1] das Thema Placebo für die alltägliche Praxis kurz, prägnant und auf die aktuelle Literatur bezogen zusammen. Damit schliessen sie an verschiedene interessante Publikationen zu diesem Thema an, die spannende Erkenntnisse zu Placebo und Nocebo für die Praxis zusammengetragen haben. Auch wenn es noch weiterer Forschung bedarf, ist die Zeit reif, die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse auch zu implementieren.
Von Koné et al. wird die offene Gabe von Placebos als gute Option angeführt. Dies wird zunehmend auch durch Ergebnisse vorliegender Studien gestützt, wurde aber von anderen Autorinnen und Autoren in internationalen Publikationen für die Praxis bisher weniger in den Vordergrund gestellt. Von der verdeckten Gabe eines Placebos raten Koné et al. aus ethisch-rechtlichen Gründen konsequent ab. Auch wenn andere Autorinnen und Autoren dies komplexer diskutiert haben [2] und durchaus Ausnahmesituationen für die verdeckte Gabe eines Placebos beschreiben, kann man die Frage stellen: Braucht es aktuell in der ärztlichen breiten Routineversorgung überhaupt offene oder verdeckte Placebobehandlungen?
Die Gabe eines Placebos – ob offen oder verdeckt – wird aus meiner Sicht immer nur eine kleinere Gruppe von Patientinnen und Patienten betreffen. In der Breite nutzen wir evidenzbasierte Therapien, die im Einzelfall mehr oder weniger gut wirken. Und wenn sich durch Erkenntnisse aus der Placeboforschung deren Wirkstärke oder Wirkdauer – zumindest auf subjektive Symptome – durch ein Placebo verstärken lassen, sollten Ärztinnen und Ärzte das notwendige Wissen, aber auch die Skills dazu haben, um diese in die alltägliche Praxis zu implementieren.
Als Ansatzpunkt dafür bietet sich die sogenannte Behandlungsergebniserwartung an. Oder wie Koné et al. es beschreiben: «In der therapeutischen Beziehung spielt die Erwartungshaltung der Arztperson sowohl im Sinne von verbal kommunizierten positiven oder negativen Suggestionen als auch durch nonverbale Kommunikation eine Rolle.»
Aber nicht nur die ärztliche Seite ist von Bedeutung, denn wodurch die Erwartungen unserer Patientinnen und Patienten beeinflusst werden und sich verändern, ist komplex. Unsere eigene Forschung zeigte, dass bestehende Erwartungen einen Einfluss auf das Therapieergebnis haben können [3] und dass es eine mögliche Assoziation zwischen optimistischeren Patientinnen und Patienten und einer Placeboreaktion gibt [4]. Die Interventionen, oft bestehend aus Suggestionen in einem spezifischen Setting, weichen in experimentellen Studien zumeist deutlich von der Routineversorgung ab und sind auf einen maximalen Effekt der Suggestionen ausgelegt. Diese experimentellen Studien sind deshalb nicht eins zu eins in die Routineversorgung übertragbar. In der Studie von Rief et al. [5] zeigte sich jedoch ein Trend für eine Intervention zur Optimierung der Erwartungen vor einer Herzoperation. Lassen sich aber die Erwartungen selbst durch praxisrelevante Suggestionen wirklich ändern? Das war das Ziel unserer aktuellen Studie [6]. Die Aufklärung über die Wirkung der Therapie wurde basierend auf vorliegenden wissenschaftlichen Daten variiert, indem ein unterschiedlicher kommunikativer Fokus gesetzt wurde. Das veränderte die Behandlungserwartung der Patientinnen und Patienten aber nicht. Bezüglich der Informationen über mögliche Nebenwirkungen gab es aber Hinweise, dass eine genauere diesbezügliche Aufklärung vielleicht die Anzahl berichteter Nebenwirkungen erhöhen könnte.
Dass auch negative Suggestionen in der Praxis, zum Beispiel in Form von Noceboeffekten durch Aufklärung über Komplikationen oder Nebenwirkungen eine Rolle spielen, wird von Koné et al. angeführt. Jedoch wird auf Nocebo sonst nur wenig im Artikel eingegangen.
Auch wenn weniger erforscht als Placebo, ist es aus meiner Sicht das wichtigere Thema in der Praxis, denn wir wollen ja unseren Patientinnen und Patienten möglichst wenig schaden.
Die Aufklärung über Komplikationen und Nebenwirkungen ist deswegen in der Praxis ein Balanceakt zwischen dem, was für ein «shared decision making» und die rechtliche Absicherung wichtig ist, und der Reduktion von Noceboreaktionen durch eine zu detaillierte Schilderung. Genau deshalb sollten institutionelle Aufklärungsmaterialien und Formblätter auch das Wissen der aktuellen Noceboforschung reflektieren, um diese Balance zu halten. Aspekte, die dazu in der Literatur angeführt werden, sind die Edukation der behandelten Personen hinsichtlich der Noceboeffekte, das positive Framing der Nebenwirkungsraten und eine gute Verbindung der Aufklärung über Wirkungen und Nebenwirkungen.
Wie lässt sich aber mit all den Erkenntnissen in der Praxis umgehen? Letztendlich geht es ja um das Wohl unserer Patientinnen und Patienten und damit um eine Implementierung dessen, was wir zum Thema Placebo und Nocebo wissen, auch in die studentische Ausbildung. Seit 2015 bieten wir an der Universität Zürich für die Medizinstudierenden einen einsemestrigen Wahlpflichtkurs «Placebo & Nocebo» mit 28 Unterrichtseinheiten für 56 Studierende an. Die Dozierenden bilden ein interdisziplinäres Team aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Rechtswissenschaft und Pharmazie und haben den Kurs als «flipped classroom» konzipiert. Neben der Vermittlung von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und ethisch-rechtlichen Aspekten legen wir grossen Wert auf die Aneignung praktischer Skills. In einem Selbsterfahrungsexperiment wird beispielsweise das Thema Erwartungen bearbeitet. Durch mehrstufiges, fallbasiertes Lernen wird empathische Kommunikation geübt und in einem innovativen Calibrated-Peer-Review-Konzept üben die Studierenden, Patientinnen und Patienten über Noceboeffekte aufzuklären.
Es ist mittlerweile genug Wissen aus der Forschung vorhanden, um es systematisch zu vermitteln, und wie in allen anderen Bereichen der Medizin ist es auch hier wichtig, aktuelle Forschungsergebnisse zu integrieren. In diesem Sinne ist der Beitrag von Koné et al. eine wichtige Erinnerung mit auch neuen Anregungen, sich dem Thema vertieft zu widmen.
Prof. Dr. med. Claudia M. Witt
Lehrstuhlinhaberin Komplementär- und Integrative Medizin, Universität Zürich, Zürich
Prof. Dr. med. Claudia M. Witt
Institut für komplementäre und integrative Medizin
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich
1 Koné I, Rumetsch V, Elger B, Gaab J. Einsatz von Placebos im ärztlichen Alltag. Swiss Medical Forum. 2022;22(40):660–663.
2 Bundesärztekammer. Placebo in der Medizin. Köln: Deutscher Ärzteverlag; 2011. 193 S.
3 Linde K, Witt CM, Streng A, Weidenhammer W, Wagenpfeil S, Brinkhaus B, et al. The impact of patient expectations on outcomes in four randomized controlled trials of acupuncture in patients with chronic pain. Pain. 2007;128(3):264–71.
4 Kern A, Kramm C, Witt CM, Barth J. The influence of personality traits on the placebo/nocebo response: A systematic review. J Psychosom Res. 2020;128:109866.
5 Rief W, Shedden-Mora MC, Laferton JA, Auer C, Petrie KJ, Salzmann S, et al. Preoperative optimization of patient expectations improves long-term outcome in heart surgery patients: results of the randomized controlled PSY-HEART trial. BMC Med. 2017;15(1):4.
6 Barth J, Muff S, Kern A, Zieger A, Keiser S, Zoller M, et al. Effect of briefing on acupuncture treatment outcome expectations, pain, and adverse side effects among patients with chronic low back pain: A randomized clinical trial. JAMA Netw Open. 2021;4(9):e2121418.