Behandlung von Patienten unter Opioidagonistentherapie
Häufige Fragen

Behandlung von Patienten unter Opioidagonistentherapie

Übersichtsartikel
Ausgabe
2021/2324
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08752
Swiss Med Forum. 2021;21(2324):396-401

Affiliations
a Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
b Bereich Abhängigkeitserkrankungen, Psychiatrische Dienste Thurgau

Publiziert am 08.06.2021

In der Praxis wirft die Opioidagonistentherapie Fragen auf, die die Behandlung komplex erscheinen lassen. In der Regel ist sie jedoch einfach durchzuführen und hocheffektiv, sofern ein paar Grundsätze und Vorgaben eingehalten werden.

Einleitung

Die Opioidabhängigkeit ist eine ernstzunehmende chronische Erkrankung multifaktorieller Genese, die unbehandelt durch starkes Opioidverlangen (Craving), ­oftmals charakteristische Entzugssymptome, gefährliche Überdosierungen bei ­wechselhaftem Toleranz­aufbau und fortgesetzten Konsum trotz erkennbarer schädlicher Folgen gekennzeichnet ist. Therapie der Wahl ist die Opioidagonistentherapie (OAT), die begrifflich den stigmatisierend wirkenden Begriff der Substitution abgelöst hat. Sie umfasst sowohl die Verschreibung eines Opioidagonisten wie auch begleitende psychosoziale oder auch psychotherapeutische Interventionen. Die psychopharmakologische Behandlung selbst ist einfach durchzuführen, sofern ein paar Grundsätze und Vorgaben eingehalten werden [1]. ­Erfahrungsgemäss sind diese aber nicht weitläufig ­bekannt und führen deshalb häufig zu Unklarheiten und Fragestellungen. Dieser Artikel soll den wichtigsten Fragen nachgehen.

Ziele einer OAT?

Die OAT hat zum Ziel, Bedingungen zu schaffen, die es Patientinnen und Patienten ermöglichen, unkontrollierten, gesundheitlich stark risikobehafteten, nicht verschriebenen Opioidkonsum einzuschränken oder bestenfalls ganz zu sistieren. Durch eine OAT lässt sich die Gesundheits­situation nachweislich verbessern und das Risiko neuer Erkrankungen minimieren. Hierfür ist eine ­ausreichend hohe Dosierung des ausgewählten Opioidagonisten notwendig, die im Gegensatz zu einer Schmerztherapie mit Opioiden immer mit einer für die Behandlung erforderlichen Opioidtoleranzentwicklung einhergeht. Eine ausreichend hohe Toleranz verhindert nicht nur rasch eintretende Entzugssym­ptome, sondern führt auch zu einer wirksamen Unterdrückung des «Suchtdrucks» (Craving). Sie gilt als wichtigste vorbeugende Massnahme gegen lebensgefährliche Überdosierungen bei fortgeführtem nicht verschriebenem Opioidkonsum.

OAT besser als Entzugsbehandlung? Eine Frage des Stigmas

Für die OAT besteht hohe medizinische Evidenz für eine langfristig positive Auswirkung auf die Abhängigkeitserkrankung selbst, die Lebensqualität und die ­Begleitumstände der Betroffenen. Entsprechend dem chronischen Verlauf einer Opioidabhängigkeit müssen Patientinnen und Patienten unter einer OAT sowohl über das Langzeitgeschehen der Behandlung als auch die gesundheitlichen Risiken bei Behandlungssistierung aufgeklärt werden, die mit hohem Rückfallrisiko, Toleranzverlust und Intoxikationsgefahr einhergehen. Zu beachten ist auch der Stigma­tisierungsaspekt der Behandlung. Namentlich bei Schmerzpatientinnen und -patienten, die im Laufe ihrer Behandlung eine Opioidabhängigkeit entwickelt haben, sind die wechselnde Behandlungsstrategie, das offene Ansprechen suchttypischer Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Abhängigkeitserkrankung und die Einbettung in suchtspezialisierte Institutionen oftmals mit negativen Anschauungen und Vorurteilen behaftet. Neben den Möglichkeiten ­einer OAT sollte auch die Möglichkeit der Durchführung einer Entzugsbehandlung angesprochen werden. Allerdings gehört dazu auch die Aufklärung darüber, dass die längerfristigen Erfolgschancen im Vergleich zur OAT deutlich geringer sind.

OAT für wen?

Erforderlich ist einzig das Vorliegen eines Opioidabhängigkeitssyndroms gemäss ICD1-10 (oder DSM2-V) (Tab. 1).
Tabelle 1: Gekürzte Diagnosekriterien für die Opioidabhängigkeit nach ICD-10, WHO.
Starker Wunsch oder eine Art Zwang zu konsumieren
Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge des Konsums
Körperliches Entzugssyndrom
Nachweis einer Toleranzentwicklung
Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen und Interessen zugunsten des Konsums
Anhaltender Konsum trotz schädlicher Folgen körperlicher, sozialer oder psychischer Art
Die Diagnose soll nur gestellt werden, wenn gleichzeitig 3 oder mehr Kriterien während des letzten Jahres vorgelegen haben.
ICD: «International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems»; WHO: «World Health Organisation».
Somit ist die Indikation zur Durchführung einer OAT einfach zu stellen. Weder jugendliches oder hohes Alter, gescheiterte Therapieversuche, Schwangerschaft oder sonstige gesundheitsrelevante Aspekte stellen dabei ein Hindernis dar. Auch spielt die Ätiologie keine Rolle. Eine Opioidabhängigkeit, die ihren Ursprung in der Einnahme von Heroin hat, gehört ebenso zur Behandlungsgruppe wie ein Abhängigkeitssyndrom, das sich im Kontext einer Schmerzbehandlung entwickelt hat. Auch das Vorliegen komorbider Störungen oder anderer beeinträchtigender Faktoren berechtigen nicht ein In-Frage-Stellen der Indikation, sondern unterstreicht bestenfalls die Notwendigkeit der Behandlung. Die Durchführung einer OAT ist bewilligungspflichtig und wird über die einzelnen Kantone beaufsichtigt. Um eine individuelle Entscheidung zur Durchführung ­einer OAT treffen zu können, muss über die wichtigsten unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) und Interaktionen des verwendeten Opioids informiert werden.

Welche Substanzen sind zugelassen?

In der Schweiz stehen mehrere Präparate für die Behandlung zur Verfügung [3]. Neben dem meistverschriebenen und weltweit am häufigsten eingesetzten Methadon (MTD) finden heute zunehmend auch retardiertes Morphin respektive «slow release oral morphine» (SROM; Sevre-Long®) und der partielle Opioid­agonist Buprenorphin (BuP; Subutex®, Buprenorphin Mepha®) Anwendung. Diese Medikamente sind für die Indikation einer OAT zugelassen und liegen in unterschiedlichen Darreichungsformen vor: ­Sevre-Long® in den Kapselgrössen 30 mg/60 mg/120 mg/200 mg und Subutex® respektive das Generikum Buprenorphin Mepha® als Sublingualtabletten in den Stärken 0,4 mg/2 mg/8 mg (Tab. 2).
Tabelle 2: Opioidagonisten, die in der Schweiz für die Substitutionstherapie bei Opioidabhängigkeit bzw. Opioidagonistentherapie (OAT) zugelassen sind.
ArzneimittelHandelsnameGalenik
MethadonMethadon®, Ketalgin®Tabletten, Lösung, Injek­tionslösung, Suppositorien, Tropfen
LevomethadonL-Polamidon®Lösung
Retardiertes MorphinSevre-Long®Kapseln
BuprenorphinSubutex®, Buprenorphin Mepha®Sublingualtabletten
Buprenorphin/NaloxonSuboxone®Sublingualtabletten
DiacetylmorphinDiaphin®Injektionslösung, IR-Tabletten, SR-Filmtabletten
IR: Immediate-Release-; SR: Slow-Release-.
Bei Verabreichung anderer auf dem Markt existierender SROM- oder BuP-Medikamente ist zu beachten, dass diese einer Off-Label-Behandlung entspricht, da diese Präparate einzig zur Schmerzbehandlung zugelassen sind. Die MTD-Verschreibung innerhalb einer OAT ist durch die Krankenpflege-Leistungsverordnung, Anhang 1 (Ziff. 8) KLV geregelt, da in der Zulassungsbestimmung für dieses Medikament die OAT keine Erwähnung findet. MTD (Ketalgin®, Methadon Streuli®) liegt in schluckbarer Form als Tabletten (in unterschiedlichen Stärken zwischen 1 mg bis 40 mg) und als Trinklösung vor; zudem stehen Suppositorien im Dosisbereich zwischen 5 mg bis 150 mg und eine ­Injektionslösung zur Verfügung.
Neben den oben genannten Präparaten sind auch weiterentwickelte Opioide wie das Levomethadon und das Kombipräparat BuP/Naloxon zugelassen. Während das Levomethadon (L-Polamidon®) einzig als Trinklösung vorliegt und im Vergleich zu den deutlich beliebteren MTD-Tabletten zurückhaltend verschrieben wird, findet sich klinisch für das BuP-Kombipräparat (Suboxone®) mit der fachlich hinterfragbaren Idee eines «Missbrauchsschutzes» in der Schweiz kein ernsthafter Bedarf.
Schliesslich besteht in der Schweiz auch die Möglichkeit, pharmazeutisches Heroin (Diaphin®) zu verschreiben. Das Medikament liegt sowohl in injizier­barer Form als auch als Immediate- und Slow-Release-Tabletten zu je 200 mg vor, ist jedoch streng reglementiert und bislang nur spezialisierten Zentren vorbehalten (Tab. 2).

Welche Opioidagonisten für welche Patientinnen/Patienten?

Die OAT orientiert sich an dem mit Abstand am besten erforschten Opioidagonisten MTD, der dementsprechend auch als Goldstandard in der Behandlung Verwendung findet. MTD ist effektiv, hat sich klinisch ­bestens bewährt und ist zudem kostengünstig. Im Vergleich zu den anderen in der Schweiz zugelassenen Opioidagonisten zeigt es jedoch ein ungünstigeres Profil hinsichtlich UAW. Sofern die möglichen CYP450-bedingten Interaktionen berücksichtigt und das Risiko dosisabhängiger QTc-Zeit-Verlängerungen durch elek­trokardiographische Kontrollen im Blick behalten werden, besteht jedoch kein Anlass, generell von MTD auf andere Opioidagonisten umzustellen. Hingegen sollte das Interaktionspotential von MTD bereits zu Beginn einer Behandlung Beachtung finden und sollten gegebenenfalls SROM oder BuP vorrangig verschrieben werden. Denn gemäss ­Kriterien der evidenzbasierten Medizin zeigen alle für die OAT in Frage kommenden Opioidagonisten bezüglich ihrer Wirksamkeit kaum Unterschiede in Bezug auf ­Effektivität und Erfolgsraten. Die Wahl des bestmöglichen Opioidagonisten ist somit eine klinische Entscheidung, die individuell und in Zusammenarbeit mit den betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden muss. Dem ausführlichen Patientengespräch kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Je nach Präferenz, Vorerfahrung, kardialem Risiko, zusätzlicher Medikation und bisherigem Konsumverhalten kann hier mit den Betroffenen die bestmögliche Medikation gefunden werden. Patientinnen und Patienten mit klarer Präferenz für MTD, aber kardialem Risiko, können auf Levomethadon umgestellt werden, da hierunter keine klinisch relevante QTc-Zeit-Verlängerung zu erwarten ist. Patientinnen und Patienten, die trotz adäquater OAT weiterhin über zusätzlichen Opioidkonsum mit dem Drang nach rascher Anflutung berichten, qualifizieren für eine Heroingestützte Behandlung. Wegen der starken Reglementierung steht diese aber vielerorts nicht zur Verfügung.

Je tiefer die Dosis desto besser?

Die optimale Erhaltungsdosis ist klinisch zu ermitteln. Sie ist dann erreicht, wenn über 24 Stunden am Tag keine substanzbezogenen Beeinträchtigungen verspürt werden, also weder Anzeichen einer Überdosierung noch ein Einsetzen von Entzugssymptomen noch ein gesteigertes Verlangen nach Opioiden (Craving). Aufgrund grosser individueller Unterschiede sind Angaben zu einer maximalen Dosierung nicht sinnvoll. Zu geringe Dosierungen führen jedoch zu signifikant schlechteren Behandlungsergebnissen [2]. Insbesondere bei Angabe von Craving und zusätzlichem Opioidkonsum ist deshalb eine Dosissteigerung erforderlich. Die wirksamen Dosen liegen in der Regel oberhalb von 80 mg MTD pro Tag.

Problemlose Umstellung zwischen zwei Opioidagonisten?

Bei Umstellung zwischen zwei Opioidagonisten ist zu beachten, dass sich spitalübliche Tabellen mit Angaben zu Äquivalenzdosen von Opioiden an vergleichsweise niedrigen Dosierungen für Schmerzbehandlungen ­orientieren. Weil aber die äquivalenten Dosierungen zwischen zwei Opioiden in unterschiedlichen Dosierungsbereichen nicht linear miteinander korrelieren und die Angaben zur Bioverfügbarkeit einzelner Sub­stanzen bei peroraler Einnahme stark schwanken, sind die Angaben verbindlicher Umrechnungsfaktoren in der unterschiedlich hoch dosierten OAT oft nicht möglich. Umstellungen von typischen Schmerzbehandlungsopioiden, wie beispielsweise Oxycodon, Hydromorphon oder Pethidin, auf OAT-zugelassene Opioide können überlappend über mehrere Tage vorgenommen werden, wobei sich die adäquate OAT-Dosis an den klinischen Angaben der Patientin oder des Patienten orientiert.
Für die häufig angewandte Umrechnung von MTD zu retardiertem Morphin wird gemäss Arzneimittelinformation der Swissmedic ein Verhältnis von 1:6–1:8 angegeben, wobei klinisch in höheren Dosierungsbereichen (100 mg MTD und höher) eher ein Verhältnis von 1:8 bis 1:10 zu erwarten ist, sodass nach erfolgter ­Umstellung meist eine Dosisanpassung notwendig wird. Die Umstellung kann im Prinzip von einem Tag auf den anderen vorgenommen werden. Dabei sollte aber an die Möglichkeit eines vor allem MTD-spezifischen «rapid metabolism» gedacht werden (CYP2D6-Polymorphismus). Insbesondere bei hohen MTD-­Dosierungen kann deshalb die Umstellung auch überlappend mit schrittweiser Ab­dosierung des MTD und zeitgleich schrittweiser Aufdosierung des SROM über mehrere Tage erfolgen. Nach erfolgter Umstellung orientiert sich die Zieldosis immer an den klinischen Angaben der Patientin respektive des Patienten.
Einfach gestaltet sich eine Umrechnung von MTD (-Razemat) auf Levomethadon, da hier wegen der gleichen Substanzeigenschaften immer das Verhältnis 2:1 gilt. Die Dosierung ist dabei ausschliesslich in Milligramm und nicht in Millilitern anzugeben, um wegen unterschiedlich konzentrierter Substanzlösungen im Handel schwerwiegende Dosierungsfehler zu vermeiden.
Eher komplex gestaltet sich die Umstellung von einem Opioidvollagonisten auf den partiellen Agonisten BuP. Aufgrund der teilagonistischen Eigenschaften bei ­zugleich hoher Rezeptoraffinität am µ-Opiatrezeptor können bei unbedachter, abrupter Umstellung starke Entzugserscheinungen mit der Gefahr eines Therapieabbruchs ausgelöst werden. Die Empfehlungen der Herstellerfirma zur Dosisinduktion weisen deshalb speziell darauf hin, dass die erste BuP-Dosis nach Einnahme der letzten Dosis des Vollagonisten erst mit Beginn des Einsetzens von Entzugserscheinungen verabreicht werden soll. Trotzdem gestaltet sich diese Art der Umstellung auch für erfahrene Therapeutinnen und Therapeuten wegen der zu erwartenden, schwierig zu kontrollierenden Entzugserscheinungen über ein bis drei Tage oftmals als schwierig. Klinisch hat sich deshalb in jüngster Zeit eine weitaus einfacher durchführbare überlappende Eindosierung beginnend mit sehr niedrigen ­Dosierungen und langsamer Auftitrierung um je 20–30% der Vordosis über 2–4 Wochen bewährt («Berner Methode») [4]. Diese Art der Umstellung ist jedoch «off label» und erfordert klinische Erfahrung, weswegen eine vorgängige Kontaktaufnahme zu spezialisierten Institutionen empfohlen wird.
Auch bei einer Umstellung von BuP auf einen Opioidvollagonisten muss die hohe Affinität des Partialagonisten am µ-Rezeptor bedacht werden. Empfohlen ist eine langsame Aufdosierung des Vollagonisten bei gleichzeitiger Sistierung von BuP.

Adäquate und effektive Schmerztherapie?

Die Durchführung einer angemessenen Schmerzbehandlung bei OAT-Patientinnen und -Patienten kann medizinisch-pharmakologisch, aber auch psychia­trisch sehr anspruchsvoll werden. Wissenschaftlich fundierte Angaben, wie eine solche Behandlung bei OAT-Patientinnen und -Patienten anzuwenden ist, fehlen bis heute. Prinzipiell ist die Angabe heftiger oder persistierender Schmerzen ernst zu nehmen und nicht als manipulativ zu werten. Patientinnen und Patienten, die in einer professionellen und adäquat durchgeführten OAT stehen, sind es gewohnt, offen über ihren Opioidbedarf zu ­reden und sich in Absprache mit der verschreibenden ärztlichen Fachperson individuell auf eine Dosis festzulegen. Dabei ist darauf zu achten, voreingenommene Fehleinschätzungen zu erkennen und zu vermeiden. Die Annahme etwa, dass OAT-Patientinnen/-Patienten mit hochdosiert verschriebenen Opioiden bereits eine ausreichende Analgesie aufweisen, ist unbegründet. Klagen über Schmerz ist entsprechend nicht als «Drogensuchverhalten», sondern als unbefriedigende Schmerzbehandlung zu verstehen und erfordert deshalb die zusätz­liche Gabe schmerzlindernder Substanzen. Die Gefahr einer Opioidintoxikation bei additiver Gabe schmerzlindernder Opioide ist aufgrund der hohen ­Toleranzentwicklung unter OAT sehr gering. Auch muss berücksichtigt werden, dass bei unzureichender ­Analgesie die Rückfall­gefahr in unkontrollierten Konsum steigt und so möglicherweise zusätzliche, nicht verschriebene Opioide eingenommen werden. Im Gegenzug darf aber auch eine opioidinduzierte Hyperalgesie nicht verpasst werden.
Aus der Praxis heraus bewährt sich bei OAT-Patientinnen und -Patienten in einem ersten Schritt, die bereits verschriebene Opioiddosis klinisch zu optimieren. Dies kann etwa durch eine Anpassung und Aufteilung der Einnahmezeiten geschehen, aber auch durch eine vorübergehende, wenn nötig auch deutliche Dosiserhöhung. Je nach Beschwerdebild sind auch die zusätzliche Gabe oder ein Wechsel auf einen anderen Opioid­agonisten erfolgreich. Opioidabhängige Patientinnen und Patienten benötigen einen erweiterten Therapieansatz mit anderen Dosisregimes als bei einer Opioidrotation, wie sie in der Schmerz­therapie Verwendung findet. Zudem ist die Erwartungshaltung an die Behandlung oftmals eine andere. ­Patientinnen und Pa­tienten mit Abhängigkeitsverhalten suchen Schmerzlinderung auch durch weitere Behandlungseffekte wie Beruhigung, Angstminderung, verbesserten Schlaf, aber auch Verhinderung von Entzugssymptomen. Dem unvoreingenommenen, wertungsfreien ­Gespräch mit Betroffenen kommt deshalb grosse Bedeutung zu. Dabei sollte nicht alleine auf die Schmerztherapie, sondern auch auf die bestehende OAT und mögliche Einflüsse weiterer komorbid vorhandener Erkrankungen geachtet werden. Eine Rücksprache mit der verschreibenden OAT-Institution ist in jedem Fall empfehlenswert. Ansonsten richtet sich die Schmerztherapie nach den gängigen Guidelines der Schmerzmedizin, die sich primär an Therapieformen mit geringem oder keinem Abhängigkeitspotential orientiert. Insbesondere bei chronischen Schmerzen sind eine enge Zusammenarbeit und gute Absprache zwischen den involvierten ­Behandlungsstellen für den Behandlungserfolg entscheidend.

Notfallmässige Hospitalisation bei ­Opioidentzug?

Die grösste Gefahr für lebensbedrohliche Zustände geht vorerst nicht von hohen Dosierungen aus, sondern von einer fehlenden Toleranz gegenüber Opioiden. Bei notfallmässig vorstellig werdenden Patientinnen und Patienten mit passenden klinischen Hinweisen für eine Opioidabhängigkeit und laborchemischem Nachweis von Opioiden im Urin oder Blut muss primär geklärt werden, ob Notwendigkeit besteht, Opioide weiter zu verabreichen. Bei positiver Anamnese für eine OAT oder regelmässigem täglichem Opioidkonsum ist zur Behandlung oder Vorbeugung von Entzugssymptomen die Fort­führung oder der Beginn einer OAT notwendig. Sofern vorhanden und möglich, sollte immer Kontakt zur ­Behandlungsinstitution hergestellt werden. Dabei interessieren Angaben zum verschriebenen Opioid­agonisten, die aktuelle Tagesdosis und der Zeitpunkt der letzten Medikamentenabgabe.
In unklaren Fällen ohne Rücksprachemöglichkeit muss beachtet werden, dass ein individuelles Opioidtoleranzniveau nicht zuverlässig gemessen oder abgeschätzt werden kann und möglicherweise keine ausreichende Opioidtoleranz vorliegt. Um schwerwiegende Intoxikationen zu verhindern, muss deshalb in unklaren Situationen stets vorsichtig eindosiert werden, selbst dann, wenn die Patientinnen und Patienten ungehalten reagieren. Für Neueinstellungen mit einem Opioidagonisten gilt deshalb auch der Grundsatz «start low – go slow» (starte mit niedriger Dosierung – erhöhe sie langsam). Initial empfiehlt sich eine maximale Einzeldosis von 30 mg MTD oder äquivalent 200 mg SROM. Eine Steigerung der Tagesdosis bei fehlenden Intoxikationszeichen um 10 mg MTD täglich ist sicher [1]. Wenn nach Gabe der ersten Dosis weiterhin objektivierbare Entzugssymptome auftreten, kann unter Berücksichtigung des Plasma-Peaks bei ungestörtem Metabolismus eine weitere Dosis verabreicht werden. Für MTD sind 10 mg als Einzeldosis empfohlen, nach weiteren 3–4  Stunden können bei weiterhin vorhandenen Entzugssymptomen nochmals 10 mg MTD nachgegeben werden. Bei SROM kann die Dosis am gleichen Tag 4–6 Stunden nach Gabe der Startdosis mit 200 mg wiederholt werden. In den ersten Tagen während der Eindosierungsphase sollte die Dosiseinnahme wenn möglich unter Sicht erfolgen.

Umgang mit schwierigen Patienten?

Bei einer OAT-Behandlung muss neben häufigen somatischen Komorbididäten auch mit klinisch relevanten psychischen Störungen gerechnet werden. Diese treten generell gehäuft auf und müssen gesamthaft berücksichtigt werden. Entscheidend ist, dass erkannt wird, dass sie oft zusätzliche Behandlungsinterventionen erfordern und oftmals die eigentliche Herausforderung in einer OAT darstellen. Augenmerk ist speziell auf die vergleichsweise häufig vorkommenden aber deutlich unterdiagnostizierten Persönlichkeitsstörungen zu richten. Betroffene OAT-Patientinnen und -Patienten prägen dabei nicht selten das stigmatisierte, ­vermeintlich typische Bild des drogenabhängigen Menschen, der im Umgang als fordernd, schroff, renitent und eher schwierig zu behandeln erlebt wird. Grundkenntnisse im thera­peutischen Umgang damit erleichtern die therapeutische Zusammenarbeit und ermöglichen oftmals erst dadurch eine angemessene Behandlung. Die Stigmatisierung als unzuverlässiger und fordernder Drogenabhängiger scheint dennoch unsere Behandlungslandschaft zu beeinflussen. Zumindest zeigt sich in den vergangenen Jahren versorgungstechnisch ein bedauerlicher Trend mit einer ­Verschiebung der OAT in die Zentren und einem zunehmend sinkenden Anteil von OAT in der Grundversorgung. Dabei könnten einfach erlernbare Techniken wie etwa die «Motivierende Gesprächsführung» («motivational interviewing» [MI]) ein effektiveres Management ermöglichen, auch über diese Patientenklientel hinaus. Generell ist der gezielte Einbezug spezialisierter Institutionen und Fachkräfte gerade auch für die Grundversorgung empfehlenswert. Denn durch integrative Therapieansätze mit einem individuellen Fallverständnis können komorbide Störungen am besten angegangen und erfolgreich bewältigt werden.

Beikonsum als Ausdruck von ­Malcompliance?

Der etwas unglücklich gewählte Begriff «Beikonsum» in einer OAT ist oftmals mit einem vergleichsweise schlechteren Behandlungsverlauf assoziiert. Zu beachten ist jedoch, dass der Gebrauch zusätzlicher psychotrop wirksamer Substanzen nicht zwingend zu weiteren Gesundheitsbeeinträchtigungen führt. Hingegen stellt ein klinisch relevanter, gesundheitlich problematischer Beikonsum oftmals ein eigenes Störungsbild dar, das analog zu anderen komorbiden Störungen auch zusätzliche Behandlung erfordert. Entsprechend handelt es sich dabei nicht um unkooperatives Verhalten im Rahmen der Therapie, sondern um ein Themengebiet, dass eigenständig und entsprechend dem Bedarf des Betroffenen angegangen werden muss. Solange die Thematik unvoreingenommen und sank­tionsfrei angesprochen wird, erübrigen sich urintoxikologische Untersuchungen in der Regel, da von validen Patientenangaben ausgegangen werden kann.

Das Wichtigste für die Praxis

• Sind die Grundkenntnisse für eine Opioidagonistentherapie (OAT) bekannt, ist diese einfach durchzuführen und hocheffektiv.
• Der geeignete Opioidagonist wird klinisch ermittelt unter Berücksichtigung des Nebenwirkungsprofils und der individuellen Präferenz, wobei zwischen den einzelnen Opioiden mit Ausnahme von Buprenorphin in der Regel problemlos gewechselt werden kann.
• Eine adäquate, klinisch zu ermittelnde, individuelle Dosierung ist neben der Berücksichtigung und zusätzlich erforderlichen Behandlung komorbider Störungen für den Behandlungserfolg einer OAT entscheidend.
• Informationen und konkrete Hilfestellungen finden sich inklusive einer elektronischen Helpline auf dem kostenlosen Internetportal www.praxis-suchtmedizin.ch.
HS reports sponsoring experts’ meetings from Mundipharma Medical Company and Indivior pharmaceutical company.
Dr. med. Johannes Strasser
Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm Klein-Strasse 27
CH-4002 Basel
hannes.strasser[at]upk.ch
1 Schweizerische Gesellschaft für Suchtmedizin (SSAM). Medizinische Empfehlungen für Opioidagonistentherapie (OAT) bei Opioidabhängigkeits-Syndrom 2020 [Internet]. Bern; 2020 [cited 2020 Sep 14]. p. 1–115. Available from: https://www.ssam.ch/fachleute/empfehlungen/opioidagonistentherapie-oat/
2 Faggiano F, Vigna-Taglianti F, Versino E, Lemma P. Methadone maintenance at different dosages for opioid dependence. Cochrane Database Syst Rev [Internet]. 2003;(3):CD002208.
3 Nordt C, Vogel M, Dey M, Moldovanyi A, Beck T, Berthel T, et al. One size does not fit all-evolution of opioid agonist treatments in a naturalistic setting over 23 years. Addiction [Internet]. 2019 Jan 12 [cited 2018 Sep 13];114(1):103–11.
4 Hämmig R, Kemter A, Strasser J, von Bardeleben U, Gugger B, Walter M, et al. Use of microdoses for induction of buprenorphine treatment with overlapping full opioid agonist use: the Bernese method. Subst Abuse Rehabil [Internet]. 2016 Jul;7:99–105.