Pegfilgrastim als seltene Ursache einer Aortitis

Pegfilgrastim als seltene Ursache einer Aortitis

Fallberichte Online
Édition
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08778
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publié le 01.01.2022

Die 60-jährige Patientin stellte sich mit seit drei Tagen zunehmendem Husten, atemabhängigen Thoraxschmerzen und Fieber vor. In der persönlichen Anamnese war ein Mammakarzinom bekannt, das vier Monate zuvor diagnostiziert wurde.

Hintergrund

Granulozyten-Kolonie stimulierende Faktoren
Granulozyten-Kolonie stimulierende Faktoren (G-CSF) werden in der Onkologie unter anderem prophylaktisch zur Verkürzung der Neutropenie-Dauer eingesetzt. Das Risiko der Entwicklung einer febrilen Neutropenie wird somit reduziert. In der Regel sind die zu erwartenden Nebenwirkungen mild (Knochenschmerzen und Fatigue), selten können aber auch schwerwiegende Nebenwirkungen auftreten. Wir berichten über den Fall einer 60-jährigen Frau mit schwerer Pegfilgrastim-assoziierter Aortitis im Rahmen der Mammakarzinom-Behandlung.

Fallbericht

Anamnese

Die 60-jährige Patientin stellte sich mit seit drei Tagen zunehmendem Husten, atemabhängigen Thoraxschmerzen und Fieber vor. In der persönlichen Anamnese war ein Mammakarzinom bekannt, das vier ­Monate zuvor diagnostiziert wurde. Therapeutisch erfolgte eine Segmentektomie der rechten Brust und ­aufgrund des erhöhten Risikos eines Rezidivs eine ­adjuvante Chemotherapie mit Docetaxel und Cyclophosphamid. Während der ersten drei Chemothe­rapiezyklen wurde jeweils Filgrastim von Tag 5 bis 8 verabreicht. Wegen Knochenschmerzen nach G-CSF-Applikation und fehlender Neutropenie in den vorgängigen Zyklen wurde der 4. Zyklus ohne G-CSF-Gabe durchgeführt. Am Tag 10 des 4. Zyklus wurde bei Fieber in Neutro­penie mit Moxifloxacin 400 mg täglich für fünf Tage, sowie einmalig Pegfilgrastim 6 mg subkutan behandelt. Hierunter zeigte sich ein günstiger Verlauf mit schnellem Entfiebern, Normalisierung der Leukozytenzahl und fehlendem Keimwachstum in den Kulturen. Neun Tage nach dieser Episode (Tag 19) erfolgte die Hospitalisation mit eingangs erwähnter Symptomatik. 

Status und Befunde

Die Patientin präsentierte sich in gutem Allgemeinzustand, mit einer tympanal gemessenen Temperatur von 38 °C und einer Tachykardie (112/Minute) bei normotonen Blutdruckwerten. Ansonsten war der klinische Status unauffällig, insbesondere mit reizloser rechter Brust und vesikulärem Atemgeräusch über ­allen Lungenfeldern.
Im Labor fielen eine Leukozytose von 18,8 G/l und ein C-reaktives Protein (CRP) von 214 mg/l auf. Die übrigen Laborwerte (Elektrolyte, Kreatinin, Leberenzyme) ­lagen im Normbereich. Die Influenza-PCR im Rachenabstrich war negativ. Im Röntgen-Thorax wurde eine neue Verschattung des Parenchyms, verdächtig auf ein Infiltrat der Lingula, beschrieben.

Verlauf und Therapie

In Zusammenschau der oben genannten Befunde wurde eine Pneumonie diagnostiziert und eine empirische antibiotische Therapie mit Clavulansäure und Amoxicillin (Co-Amoxicillin) und Clarithromycin begonnen.
Während der folgenden drei Tage persistierte ein Status febrilis über 39 °C, der CRP-Wert stieg weiter an auf 282 mg/l. Die Antibiotikatherapie wurde auf Piperacillin-Tazobactam umgestellt, weiterhin ohne Regredienz der Entzündungswerte und des Fiebers. Computer­tomografisch zeigten sich dann keine Infiltrate, jedoch überraschenderweise eine im Vergleich zu den Vorbefunden neue zirkuläre Verdickung der Aortenwand im Aortenbogen, sowie der Aorta descendens thoracalis, passend zu einer Aortitis (Abb. 1A).
Abbildung 1:
A) CT Thorax zum Manifestationszeitpunkt mit zirkulärer Verdickung der Aorta im Bereich des Aortenbogens sowie der Aorta descendens.  B) MRI Angio Thorax vier Wochen später mit deutlicher Rückbildung der entzündlichen Veränderungen mit noch diskreter residueller Aortenwandverdickung. Pfeile: Aortenwand.
Die bei Eintritt abgenommenen Blutkulturen wie auch die Verlaufsblutkulturen blieben ohne Keimwachstum. Treponema-pallidum-Antikörper waren nicht nachweisbar. ANA (Antinukleäre Antikörper) und ANCA (Antineutrophile cytoplasmatische Antikörper) waren negativ. Basierend auf diesen Resultaten und der vorangegangenen Pegfilgrastim-Applikation wurde die Diagnose einer G-CSF-assoziierten Aortitis gestellt.
Die antibiotische Therapie wurde entsprechend gestoppt. Da die Symptomatik und Entzündungswerte bei Diagnosestellung bereits deutlich regredient waren, wurde ein exspektatives Vorgehen ohne Glukokortikoidtherapie gewählt. Nach weiteren drei Tagen war die Patientin beschwerdefrei, der CRP-Wert halbierte sich spontan. Da im Rahmen der adjuvanten Therapie nach brusterhaltender Operation des Mammakarzinoms eine Radiotherapie geplant war, wurde vier Wochen später eine Magnetresonanztomografie der Aorta durchgeführt, um eine persistierende Aortitis vor Radiotherapie auszuschliessen. Hierbei zeigte sich eine deutliche Rückbildung der entzündlichen Veränderungen mit noch diskreter residueller Aortenwandverdickung am Aortenbogen ohne Aneurysma oder fokale Ektasie der thorakoabdominalen Aorta (Abb. 1B). Die Radiotherapie konnte komplikationslos durchgeführt werden.

Diskussion

Nichtinfektiöse Aortitiden sind isoliert oder im Rahmen einer systemischen Erkrankung (z.B. einer Takayasu-­Arteritis, einer Riesenzellarteritis oder einer IgG4-assoziierten Erkrankung) auftretende, autoimmun bedingte Prozesse. Sie verlaufen oft lange Zeit unerkannt und werden nicht selten als überraschende Befunde anlässlich der bildgebenden Tumor- und Infektabklärung gefunden. Spezifische Serumbiomarker fehlen bis zum heutigen Datum, erhöhte CRP- oder BSR-Werte (BSR: Blutsenkungsreaktion) sind bei aktiver Aortitis üblich, aber unspezifisch.
Die Erstbeschreibung einer Aortitis als unerwünschte Nebenwirkung nach G-CSF-Injektion erfolgte 2004 [1]. Seither wurden über 40 Fälle publiziert, gehäuft seit 2016. Ob dies auf eine häufigere Anwendung von G-CSF, eine Sensibilisierung auf dieses Problem durch die Ärzteschaft zurückzuführen ist oder ein neues Phänomen darstellt, ist noch unklar. G-CSF ist in der Schweiz als kurzwirksames Filgrastim (seit 1991), Lenograstim (seit 1993) und langwirksames (pegyliertes) Pegfilgrastim (seit 2003) zugelassen.
Eine Registerstudie aus Japan, welche 102014 Patient/innen einschloss, zeigte eine Assoziation der Verwendung von G-CSF mit Aortitiden. 0,47% der mit G-CSF behandelten Patient/innen entwickelten eine Aortitis, verglichen mit 0,01% der nicht mit G-CSF behandelten Patient/innen, was einer Odds Ratio von 45,87 entspricht. Es wird von einem Klasseneffekt ausgegangen; das Risiko bei Pegfilgrastim war etwas höher als bei Filgrastim oder Lenograstim. Eine Assoziation mit einem bestimmten Chemotherapeutikum konnte hingegen nicht nachgewiesen werden. Auch Patient/innen ohne onkologische Grunderkrankung (z.B. bei Stammzellmobilisierung oder zyklischen Neutropenien) können betroffen sein [2].
Die Mechanismen, welche zu einer G-CSF-induzierten Vaskulitis führen, sind nicht geklärt. Die Aktivierung neutrophiler Granulozyten mit konsekutiver Stimulation der Proliferation und Differenzierung neutrophiler Vorstufen und gesteigerte Chemotaxis scheinen eine essenzielle Rolle zu spielen. Weiter wird inflammatorischen Zytokinen, einschliesslich Interleukin 6 ­(IL-6), eine Beteiligung zugeschrieben. Was zur Infiltration der Aortenwand führt, ist unklar. Interessant ist der Vergleich zur Behçet-Vaskulitis, welche in der ­akuten Phase der Erkrankung ebenfalls hohe G-CSF-Spiegel aufweist. G-CSF scheint durch Neutrophilen-induzierte autoinflammatorische und autoimmune Prozesse die Entzündung der Aortenwand auszulösen. Diese präsentiert sich im Gegensatz zu den klassischen Aortitiden (z.B. bei Riesenzellarteriitis) auffallend häufig selbstlimitierend [3, 6].
Die Patient/innen präsentieren sich typischerweise innert zwei Wochen nach Applikation eines G-CSF mit Fieber sowie milden bis moderaten Schmerzen im Bereich der betroffenen Gefässe. Typischerweise sind die Entzündungswerte erhöht. Häufig wird initial eine Infek­tion vermutet, antibiotisch behandelt und erst nach fehlender Besserung in einer Bildgebung die Vaskulitis festgestellt. Als bildgebendes Verfahren wird meist die Computertomografie (CT) gewählt, jedoch kann die ­Aortitis auch mittels Magnetresonanztomografie (MRI), Positronen-Emissions-Tomografie/CT (PET-CT) oder Sonografie diagnostiziert werden. Andere Auslöser wie ­Infektionen (insbesondere Syphilis, Salmonellen oder andere Bakterien) und rheumatologische Erkrankungen müssen ausgeschlossen werden [3–6].
Bisher konnte bis auf das Absetzen des auslösenden Agens keine Standardtherapie etabliert werden. Während die Mehrheit der bisher beschriebenen Fälle mit Glukokortikoiden behandelt wurde, zeigen die rest­lichen Patient/innen, wie auch in unserem Fall, eine spontane Regredienz der Symptomatik und der bildgebenden Befunde innert Wochen auch ohne Behandlung. Ob mit einer Glukokortikoidtherapie die vereinzelt berichteten Komplikationen wie Aortendissektion oder Aneurysmenbildung reduziert werden können, bleibt offen. In einem Fallbericht werden hohe IL-6-Spiegel beschrieben, weshalb Anti-IL-6-Antikörper einen Therapieansatz bieten könnten. Eine Verlaufsbildgebung mit Frage nach Aneurysmabildung ist spätestens zwei Jahre nach Erstmanifestation, in Analogie zur Riesenzellarteritis, zu empfehlen [3–6].
Es sind nur wenige Fälle beschrieben, in denen eine Reexposition erfolgte. Meist trat erneut eine Aortitis auf, welche ebenfalls nach Absetzen des G-CSF wieder abklang. Durch Umstellung von einem langwirksamen auf einen kurzwirksamen G-CSF konnte in einigen ­Fällen ein Rezidiv vermieden werden [3–5]. 

Das Wichtigste für die Praxis

  • G-CSF-assoziierte Aortitiden sind eine seltene, aber potenziell lebensbedrohliche unerwünschte Arzneimittelwirkung.
  • Das Auftreten von Fieber, moderaten abdominalen oder thorakalen Schmerzen sowie erhöhten Entzündungswerten innert einer bis zwei Wochen nach G-CSF-Applikation, können differenzialdiagnostisch auf eine G-CSF-assoziierte Vaskulitis hinweisen.
  • Eine infektiöse oder rheumatologische Ursache muss gesucht und ausgeschlossen werden.
  • Da eine Reexposition zu einem Rezidiv führen kann, sollte diese erst nach ausführlichem Abwägen der Vorteile und Risiken erwogen werden.
Die Autoren bedanken sich bei Dr. med. Jürgen Fornaro und Dr. med. Thomas Treumann, Departement Radiologie des Luzerner Kantonsspitals, für die Bereitstellung der radiologischen Abbildungen.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Sibylle Zimmermann
Luzerner Kantonsspital
Spitalstrasse
CH–6000 Luzern 16
zimmermannsib[at]gmail.com
1  Aortite après injections de G-CSF [Aortitis after G-CSF injections]. Rev Med Interne. 2004 Mar;25(3):225–9. http://dx.doi.org/10.1016/j.revmed.2003.10.015 PubMed
2 . Granulocyte colony-stimulating factor-associated aortitis in the Japanese Adverse Drug Event Report database. Cytokine. 2019 Jul;119:47–51. http://dx.doi.org/10.1016/j.cyto.2019.02.013 PubMed
3  Pegfilgrastim-associated large-vessel vasculitis developed during adjuvant chemotherapy for breast cancer: A case report and review of the literature. J Oncol Pharm Pract. 2020 Oct;26(7):1785–90. http://dx.doi.org/10.1177/1078155220910800 PubMed
4  G-CSF-induced aortitis: two cases and review of the literature. Autoimmun Rev. 2019 Jun;18(6):615–20. http://dx.doi.org/10.1016/j.autrev.2018.12.011 PubMed
5 . Granulocyte-colony stimulating factor-associated aortitis in a woman with advanced breast cancer: a case report and review of the literature. BMC Cancer. 2019 Dec;19(1):1217. http://dx.doi.org/10.1186/s12885-019-6403-9 PubMed
6 . Migratory Aortitis Associated with Granulocyte-colony-stimulating Factor. Intern Med. 2020 Jun;59(12):1559–63. http://dx.doi.org/10.2169/internalmedicine.4331-19 PubMed