Schädliche Arbeitsunfähigkeitszeugnisse
Häufige Fallvignette: Eine Büroangestellte (seltener ein Mann) erfährt am Arbeitsplatz eine Erniedrigung, Aggression oder Missachtung und entwickelt eine Panikreaktion oder eine Depression. Der Gang in die Hausarztpraxis mündet in ein Zeugnis für Arbeitsunfähigkeit, die aber nicht zur Erholung der Betroffenen führt, sondern zu fortdauernder Schwäche, Selbstzweifel und Depression. Dazu kommen die fortgesetzte Verschreibung von Psychopharmaka, unnütze somatische Abklärungen und schliesslich das Aussprechen einer Invalidität.
Die Invalidenversicherung (IV) berentet bereits die Hälfte der Klientinnen und Klienten für psychische Leiden. Die korrekte Anamnese ergibt sehr oft folgenden Zusammenhang: Die psychische Dekompensation der Betroffenen steht in keinem Verhältnis zur auslösenden Situation. Fast immer kommen traumatische Kindheitserlebnisse von Vernachlässigung, Gewalt, Missbrauch, Parentalisierung zutage.
Eine kausale Behandlung, die auch eine Nichtspezialistin oder ein Nichtspezialist leisten kann, umfasst:
  • Das Aussprechen einer Arbeitsunfähigkeit ist sparsam zu handhaben. Sie entlastet zunächst, ist aber keine Therapie. Die Zeit der Arbeitsunfähigkeit soll für kausale Massnahmen verwendet werden. Der Arbeitsplatz erhält Struktur und Bestätigung.
  • Psychopharmaka können am Anfang notwendig sein, sollten aber nicht länger als zwei Wochen verschrieben werden. Für die psychotherapeutische Arbeit sind sie hinderlich, da sie den Leidensdruck und die Einsichtsfähigkeit vermindern.
  • Somatische Abklärungen sollen sparsam und für die Betroffenen transparent erfolgen: «Meine Vermutung, dass Sie kein ernsthaftes körperliches Leiden haben, wurde bestätigt.»
  • Zeugnisse über mehr als sechs Monate erschweren den Wiedereinstieg in die Arbeit, das Aussprechen einer Rente noch viel mehr. Merke: In unserer Praxis hat ein IV-Rentner dank Beharrlichkeit die Arbeit nach acht Jahren wieder aufgenommen!
  • Psychotherapeutische Hilfe ist sehr wirksam, sofern frühzeitig eingesetzt. Voraussetzung ist Erfahrung der Therapeutin respektive des Therapeuten mit dem Unbewussten, das heisst eine Selbsterfahrung gemäss Charta.
  • Ich warte auf eine Top-5-Not-to-do-Liste für die Psychosomatik.
Dr. med. Jean Berner, TT SAPPM, Luzern
Die Autoren haben auf eine Replik verzichtet.
Conflict of Interest Statement
Der Autor hat deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.

© Thomas Gowanlock | Dreamstime.com

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