Infektionen am Lebensende: ein praxisorientierter Leitfaden
Antibiotic Stewardship
Peer-review

Infektionen am Lebensende: ein praxisorientierter Leitfaden

Übersichtsartikel AIM
Ausgabe
2024/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2024.1546853744
Swiss Med Forum. 2024;24(33-34):394-398

Affiliations
Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen: a Klinik für Infektiologie, Infektionsprävention und Reisemedizin
b Palliativzentrum
c ehemals Klinik für Innere Medizin
d Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie

Publiziert am 14.08.2024

Oft erhalten Patientinnen und Patienten am Lebensende unnötige Antibiotikatherapien, die mit Nebenwirkungen und der Selektion resistenter Bakterien vergesellschaftet sind. Mit diesem Artikel möchten wir in der Patientenversorgung tätige Ärztinnen und Ärzte für das Thema sensibilisieren und praktische Empfehlungen für häufig auftretende Szenarien abgeben.
* Geteilte Erstautorschaft

Einführung

In der Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende stellen inflammatorische Zustände eine häufige diagnostische und therapeutische Herausforderung dar. Einerseits nimmt in dieser Population die Häufigkeit von Infektionen zu, andererseits treten aber auch nicht infektiöse Entzündungszustände, die als Infektion fehlinterpretiert werden können [1–5], gehäuft auf. Die Differenzierung kann für die Behandelnden zusätzlich erschwert werden, wenn diagnostische Abklärungen nicht mehr gewünscht oder medizinisch sinnvoll sind. Dies trägt dazu bei, dass Antiinfektiva bei über der Hälfte der Patientinnen und Patienten am Lebensende eingesetzt werden, häufig mit unsicherer Indikation [6, 7]. Die Begründung der Gabe mit einer Verbesserung der Symptomkontrolle oder Verlängerung der Lebensdauer wird von der spärlichen und widersprüchlichen Datenlage diesbezüglich nicht gestützt [3, 8–10]. Angesichts der potentiellen Nebenwirkungen einer antibiotischen Therapie, die in unterschiedlichen Schweregraden jede fünfte Person betreffen, muss der Nutzen kritisch abgewogen werden. So können medikamentöse Nephro-, Neuro- oder Hepatotoxizität sowie gastrointestinale Nebenwirkungen die Lebensqualität der Betroffenen deutlich einschränken und durch die Begünstigung von Pilz- oder Clostridioides-difficile-Infektionen [11–13] weiterführende medizinische Massnahmen bedingen. Die darüber hinaus bestehende Dimension der Selektion resistenter Erreger [13], die zu den wichtigsten globalen Bedrohungen gezählt werden [14], unterstreicht die Verantwortung von Ärztinnen und Ärzten im Umgang mit Antibiotika nicht nur gegenüber den Patientinnen und Patienten.
Im Rahmen des Antibiotic-Stewardship-Programms am Kantonsspital St. Gallen haben wir uns innerhalb einer interdisziplinären Arbeitsgruppe eingehend mit dem Thema «Infektionen am Lebensende» beschäftigt. Basierend auf unseren Erfahrungen soll dieser Leitfaden eine Grundlage für den rationalen Einsatz von Antibiotika bei Patienten und Patientinnen am Lebensende bieten. Während die individuellen Therapieziele in diesen Entscheidungsprozessen stets übergeordnet zu beachten sind, beziehen wir uns auf Patientinnen und Patienten mit terminaler Grunderkrankung und einer Lebenserwartung von Wochen bis Monaten und beschreiben häufige Szenarien, die zu einer Antibiotikagabe bei dieser Patientengruppe führen. Die Ausführungen beziehen sich explizit nicht auf die akute Sterbephase, wo ausschliesslich die Symptomkontrolle im Vordergrund steht und keine diagnostischen oder kurativ-therapeutischen Massnahmen durchgeführt werden.

Antibiotikaeinsatz basierend auf individueller Therapiezielsetzung

Für den Antibiotikaeinsatz am Lebensende gibt es keine allgemein gültigen Leitlinien. Nebst der unscharfen Definition des Lebensendes würde dies der Heterogenität der Patientinnen und Patienten mit unterschiedlichen Grunderkrankungen und entsprechender Vielfalt an möglichen Infektionen nicht gerecht. Diagnostische und therapeutische Entscheidungen müssen stets im Kontext der Patientin oder des Patienten getroffen werden, um eine optimale Behandlung und einen sinnvollen Antibiotikaeinsatz zu ermöglichen. Die Formulierung von übergeordneten Therapiezielen ist hierfür sehr hilfreich, und die Unterstützung der Patientinnen und Patienten bei Definition und Dokumentation derselben – auch im Sinne einer Therapiezielbegrenzung – stellt eine wichtige ärztliche Aufgabe dar. Stabile Krankheitsphasen, während derer die Patientinnen und Patienten ambulant betreut werden, bieten die Möglichkeit, übergeordnete Therapieziele als Teilaspekt der gesundheitlichen Vorausplanung zu formulieren. Hier verweisen wir auch auf den simultan erschienenen Artikel in der Schweizerischen Ärztezeitung [15].
Aber auch in all jenen Situationen, die zur Evaluation des Einsatzes von Antibiotika veranlassen, sind die Thematisierung, Reevaluation und gegebenenfalls Redokumentation der übergeordneten Therapieziele sinnvoll. Hier möchten wir insbesondere dazu anregen, mit den Patientinnen und Patienten im Sinne eines «shared decision making» zu besprechen, wie im Falle einer wiederkehrenden Infektion vorgegangen werden soll. Bei jeder Therapiezielsetzung ist die Involvierung der Hausärztin oder des Hausarztes unabdingbar. Eine gute Übersicht über hier anwendbare Kommunikationsstrategien wurde kürzlich von Karlin et al. veröffentlicht [16].
Sind Infektionsdiagnostik und -therapie noch gewünscht, ist es gerade in komplexeren Situationen sinnvoll, das Behandlungskonzept interdisziplinär festzulegen. Der aktuelle Stand der Grunderkrankung sowie deren Prognose sollten dabei durch die fachspezifische Disziplin (z.B. Onkologie bei Tumorleiden, Pneumologie bei fortgeschrittenen Lungenerkrankungen), idealerweise in Zusammenarbeit mit der Palliativmedizin, eingeschätzt werden. Zur Beurteilung des Vorliegens einer Infektion sowie der Möglichkeiten und Limitationen von konservativen oder interventionellen Behandlungsoptionen empfehlen wir zudem den Einbezug von Infektiologie und gegebenenfalls chirurgischen Fachgebieten. Gemeinsam kann entschieden werden, ob eine Infektion weiter abgeklärt, kurativ behandelt, supprimiert oder dem natürlichen Verlauf überlassen werden soll. Der Einbezug der Palliativmedizin hat sich in diesen Situationen bewährt, unabhängig davon, ob ein kurativer Therapieversuch unternommen wird oder nicht. Die Symptomkontrolle rückt mit fortschreitender Grunderkrankung in den Vordergrund, und die Entscheidung für beziehungsweise Transition in eine reine Komforttherapie kann so vereinfacht werden.
Im Folgenden werden konkrete Herausforderungen und mögliche Herangehensweisen bei Diagnostik und Therapie beschrieben, die das Behandlungsteam in der akkuraten Einschätzung der Infektionssituation unterstützen sollen und damit einen rationaleren Einsatz von Antibiotika ermöglichen.

Diagnostische Herausforderungen

Klinik

Die klinische Beurteilung kann bei fortgeschrittener Grunderkrankung erschwert sein. Zumeist können in der körperlichen Untersuchung bei Patientinnen und Patienten am Lebensende multiple pathologische Befunde erhoben werden, deren Einordnung gerade bei erstmaligem Patientenkontakt, zum Beispiel bei notfallmässigen Vorstellungen, für die Ärztin oder den Arzt herausfordernd sein kann. Für einige Situationen existieren validierte klinische Kriterien oder Scores, die hier stets zu Hilfe genommen werden sollten. So können bei rezidivierenden Exazerbationen einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) die Anthonisen-Kriterien als Hinweis auf eine bakterielle Ätiologie hilfreich sein [17, 18]. Sind keine entsprechenden Instrumente anwendbar, empfehlen wir, die Dynamik der Symptomatik in der Beurteilung zu berücksichtigen. Ein akutes Auftreten neuer oder eine rasche Verschlechterung vorbestehender Symptome sind dabei Indizien für eine Infektion. Bei Vorhandensein von zentralen Zugängen wie Portkatheter-Systemen müssen aber auch schleichende Verschlechterungen mit oder ohne Fieber an Portinfektionen denken lassen und zu einer entsprechenden Diagnostik führen.

Fieber und Entzündungsparameter

Erhöhte Entzündungsparameter mit oder ohne Fieber sind speziell bei Patientinnen und Patienten am Lebensende häufig anzutreffen.
Zum einen geht das Fortschreiten vieler Grunderkrankungen auch mit einer Zunahme der Häufigkeit von Infektionen einher [1, 2]. Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen können dies beispielsweise Haut-/Weichteilinfekte sein, die durch Stauung oder perfusionsbedingte Ulzera an den Beinen begünstigt werden, bei chronischen Lungenerkrankungen sind es Exazerbationen und Pneumonien. Letztere treten gehäuft bei demenziellen Erkrankungen, beispielsweise aufgrund von Schluckstörungen, auf [19, 20]. Andererseits können die Progression der Grunderkrankung selbst, insbesondere bei autoimmunen oder neoplastischen Prozessen, oder nicht infektiöse Komplikationen wie Blutungen oder Thrombosen einen Entzündungszustand hervorrufen [21–23]. Auch therapieassoziierte Nebenwirkungen, wie ein Zytokin-Freisetzungssyndrom («cytokine-release syndrome» [CRS]) nach Antikörper- oder chimärer Antigenrezeptor-(CAR-)T-Zell-Therapie, immunvermittelte Nebenwirkungen beim Einsatz von Checkpointinhibitoren sowie die selteneren Differentialdiagnosen des Arzneimittelfiebers oder gar der malignen Hyperthermie führen zu einer Inflammation [24].
Bei allen Genannten kann die Konsequenz die Erhöhung häufig bestimmter Entzündungsparameter sein (z.B. Leukozyten, C-reaktives Protein, Procalcitonin, Interleukine). Entsprechend ist der Rückschluss auf die Ätiologie erschwert, und die Infektionsdiagnostik stellt, gerade bei Tumorpatientinnen und -patienten, eine Herausforderung dar [25, 26].

Punktatanalysen

Das Auftreten maligner Zellen im Pleuraerguss oder Aszites ist bei Tumorpatientinnen und -patienten häufig Ausdruck eines Tumorprogresses. Sowohl die Klinik als auch die Punktatanalyse können gleich wie bei einem Empyem oder einer spontan-bakteriellen Peritonitis (SBP) sein [27], wobei eine Dominanz an Lymphozyten eher für ein malignes Geschehen spricht [28, 29]. Um die Spezifität der Diagnosekriterien zu erhöhen, kann gemäss einer Studie aus Korea bei bekannt malignem Aszites eine Leukozytenzahl von 1500/µl, respektive Granulozyten von 70%, als Cut-off verwendet werden, wobei darüberliegende Werte eher für einen infizierten Aszites sprechen [30]. Andere Parameter zur verlässlichen Differenzierung eines rein malignen Ergusses versus einer Superinfektion fehlen weitestgehend. Letztere kann bis zum Vorliegen der mikrobiologischen Kulturen nicht ausgeschlossen werden. So wird im klinischen Alltag oft auch bei bekanntem malignen Erguss eine antibiotische Therapie gestartet, sobald die Kriterien eines Empyems oder einer SBP formal erfüllt sind.
Basierend auf unseren Erfahrungen empfehlen wir jedoch, bei bekannten malignen Ergüssen nicht allein aufgrund der Punktatanalysen eine Antibiotikatherapie zu initiieren. Bei klinisch stabilen und afebrilen Patientinnen und Patienten kann damit bis zu einem positiven mikrobiologischen Nachweis zugewartet werden.
In der Praxis gibt es einige Aspekte, die angesichts der genannten diagnostischen Herausforderungen zur Abgrenzung einer Infektion hilfreich sein können. Eine erfahrungsbasierte Zusammenstellung findet sich in Tabelle 1.

Therapeutische Herausforderungen

Ist eine Infektion wahrscheinlich, können die therapeutischen Optionen aufgrund der Grunderkrankung limitiert sein und sollten mit der Patientin oder dem Patienten im Kontext deren übergeordneter Therapieziele besprochen werden. Die nachfolgenden Herausforderungen sind erfahrungsgemäss häufig im klinischen Alltag.

Fokussanierung

Eine adäquate Sanierung des Infektfokus ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Ausbehandlung einer Infektion. Je nach Fokus kann dies Interventionen wie die Drainage oder Ausräumung von Abszessformationen, die Entfernung von infiziertem Fremdmaterial oder das Débridement von nekrotischem Gewebe beinhalten [31]. Eine fortgeschrittene Grunderkrankung kann hier limitierend sein.
Bei Tumorpatientinnen und -patienten ist die Fokuskontrolle häufig erschwert, wenn der Infektfokus direkt oder indirekt durch den Tumor verursacht wird. Hierdurch bedingte Foci sind zum Beispiel superinfizierte Nekrosen oder Metastasen. Ausserdem kann die indirekte Obstruktion benachbarter Strukturen mit konsekutiver Abflussstörung/Retention Superinfektionen begünstigen, beispielsweise bei einer obstruktiven Pyelonephritis, einer Cholangitis oder einer poststenotischen Pneumonie. Auch nicht maligne Grunderkrankungen wie eine fortgeschrittene Herz- oder Lungenerkrankung können durch eine Erhöhung des Interventionsrisikos die Fokuskontrolle erschweren. In diesen Situationen wird eine Sanierung des Fokus technisch und medizinisch zunehmend schwierig und ist – je nach Invasivität und Gesamtprognose – auch nicht mehr sinnvoll oder gewünscht.
Eine reine Antibiotikatherapie sollte hier besonders kritisch evaluiert werden, da bei inadäquater Fokussanierung eine Ausbehandlung der Infektion allenfalls nicht möglich ist oder deutlich länger dauert.

Antibiotische Suppressionstherapie und Prophylaxe

Ist eine erfolgreiche Fokussanierung nicht mehr zu erwarten, kann eine antibiotische Suppressionstherapie in Betracht gezogen werden. Diese dient dazu, eine bestehende Infektion einzudämmen und die Wahrscheinlichkeit eines Wiederaufflammens oder von Folgeerscheinungen hinauszuzögern [32]. Eine solche Therapie kann bei Menschen, die dem Sterben nahe sind, dazu dienen, das Erreichen eines konkreten Lebensziels noch zu ermöglichen, wie eine Reise, ein Fest, eine Geburt oder der Abschied von einem bestimmten Menschen [33]. Auch kann eine Suppressionstherapie in Situationen, bei denen eine Fokussanierung nicht mehr möglich oder gewünscht ist, zur Symptomkontrolle beitragen, wobei das Ansprechen sehr variabel ist [34, 35]. Eine lokale Anwendung von Metronidazol kann bei unangenehm riechenden Wunden wie exulzerierenden Tumoren versucht werden, wenn die Lebensqualität der Betroffenen dadurch eingeschränkt ist [36].
Neben einer Suppression ist bei Patientinnen und Patienten am Lebensende auch eine antibiotische Prophylaxe in gewissen Situationen sinnvoll, zum Beispiel bei rezidivierenden Infektionen aufgrund von Tumorobstruktion oder -kompression (z.B. rezidivierenden Cholangitiden bei Cholangiokarzinom) oder bei wiederholten Hospitalisationen aufgrund von Harnwegsinfektionen.
Eine weitere Möglichkeit, gerade in diagnostisch unklaren Situationen, kann die probatorische Gabe von Antibiotika zur Überprüfung des Ansprechens sein. Hierbei empfehlen wir die Definition von sowohl Zeitpunkt als auch klinischen Kriterien, hinsichtlich derer das Ansprechen geprüft werden soll.
Wird eine Antibiotikagabe in Betracht gezogen, empfehlen wir, die Nutzen-Risiko-Abwägung eingehend und klar mit der Patientin oder dem Patienten zu thematisieren, da das Fortschreiten der Grunderkrankung nicht verhindert wird und ein Einfluss auf die Lebenserwartung häufig nicht erwartet werden kann [8–10]. Mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Interaktionen mit bestehenden Medikamenten im Sinne eines potentiellen Wirksamkeitsverlustes, die Möglichkeit einer Infektion durch eine resistentere Selektionsflora sowie die bei intravenöser Applikation möglicherweise notwendige Hospitalisation sollten dabei dem erwarteten Nutzen gegenübergestellt werden. Hierbei ist zu erwähnen, dass geriatrische Patientinnen und Patienten aufgrund von Organdysfunktionen (Medikamentenakkumulation, Delir-/Epilepsiepotential) oder Polypharmazie (Interaktionen) besonders vulnerabel für nachteilige Effekte von Antibiotikatherapien sind [7, 37]. Aufgrund dieser Risiken ist es wichtig, die Indikation für eine antibiotische Suppression oder Prophylaxe nur bei klar erwartbarem Nutzen für die Lebensqualität zu stellen.
Bei der Auswahl eines geeigneten Antibiotikums sollte nebst der Abdeckung des bekannten oder zu erwartenden Keimspektrums auch die Verträglichkeit beachtet werden. Doxycyclin oder Amoxicillin sowie, je nach benötigter Dosis, auch Trimethoprim/Sulfamethoxazol eignen sich beispielsweise für viele Indikationen und sind gut verträglich [38], während das Nebenwirkungspotential von Fluorochinolonen (Delirpotential, Tendinopathien), Clindamycin (hohes Risiko für Clostridioides-difficile-Infektionen), Linezolid (Neutropenien, Laktatazidose, irreversible Neuropathie) oder Metronidazol (Dysgeusie, gastrointestinale Beschwerden, periphere Neuropathie) diese Substanzen insbesondere für den dauerhaften Einsatz weniger empfehlenswert macht [32, 39].
In Abbildung 1 sind wichtige Aspekte, die im interdisziplinären Betreuungsteam zusammen mit der Patientin oder dem Patienten zu thematisieren sind, in einem Algorithmus dargestellt.
Abbildung 1: Infektionsmanagement bei Patientinnen und Patienten am Lebensende. Wichtige Überlegungen zu den einzelnen Schritten: siehe Fussnoten.
1 Interdisziplinäre Beurteilung der Sanierungsoptionen betreffend die technischen und medizinischen Möglichkeiten sowie die Sinnhaftigkeit im Kontext der übergeordneten Therapieziele.
2 Festlegung der Modalität und des Settings: operative Fokussanierung (z.B. Débridement, Fremdmaterialentfernung) notwendig oder interventionelles Vorgehen (z.B. Punktion, Drainage, Stenting) möglich? Invasivität und damit verbundenes Setting im Kontext der Therapieziele vertretbar?
3 Diskussion über Notwendigkeit einer begleitenden oder konservativen Antibiotikatherapie: Limitationen anerkennen und kommunizieren.
4 Antibiotisches Therapiekonzept erstellen: Kuration möglich? Bei Suppression Zieldefinition (klinische/laboranalytische Stabilisierung und/oder Erreichen eines konkreten Lebensziels). Notwendiges Setting im Kontext vertretbar (z.B. Gewichtung Spitalaufenthalt vs. Zeit zu Hause bei möglicherweise kürzerer Lebensdauer)?
5 Rezidiv/Reinfektion antizipieren und Prozedere festlegen bezüglich allfälliger Rehospitalisation oder erneuter Fokussanierung, allenfalls antibiotische Prophylaxe diskutieren.

Ausblick

Aufgrund der demographischen Entwicklung geht man für die Schweiz bis zum Jahr 2040 von einer Zunahme der Todesfälle von aktuell knapp 70 000 auf über 90 000 pro Jahr aus [40, 41]. Gleichzeitig nehmen Antibiotikaresistenzen in der Schweiz und global stetig zu [14, 42]. Vor diesem Hintergrund wird die Wichtigkeit einer rationalen Antibiotikatherapie auch am Lebensende weiter steigen. Im Rahmen von Antibiotic-Stewardship-Programmen bietet sich die Chance, die Ärzteschaft für die Problematik zu sensibilisieren und verhaltensorientierte Interventionen wissenschaftlich zu begleiten. Entsprechende Programme sind zu fördern. Weitere Forschung zum Thema sollte darauf abzielen, echte Infektionen besser von nicht infektiösen Entzündungszuständen am Lebensende zu unterschieden. Zudem braucht es mehr Evidenz, um das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer Antibiotikatherapie am Lebensende besser abschätzen zu können.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Über die Hälfte der Patientinnen und Patienten am Lebensende wird antibiotisch behandelt.
  • Eine frühzeitige individuelle Therapiezielsetzung kann hilfreich sein, um unnötige oder im Gesamtkontext nicht sinnvolle Antibiotikatherapien zu vermeiden.
  • Fieber- und Entzündungszustände, die durch die Grunderkrankung (z.B. Tumorfieber) oder Therapie (z.B. «drug fever») bedingt sind, führen häufig zu unnötiger Gabe von Antibiotika.
  • Bei Patientinnen und Patienten mit malignem Aszites oder malignem Pleuraerguss können die üblichen diagnostischen Kriterien nicht angewendet werden.
  • In seltenen Situationen können, unter sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung, eine antibiotische Suppressionstherapie oder Prophylaxe in Betracht gezogen werden.
Dr. med. Susanne Rüfenacht Klinik für Infektiologie, Infektionsprävention und Reisemedizin, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen
Dr. med. Tamara Dörr Klinik für Infektiologie, Infektionsprävention und Reisemedizin, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen
susanne.ruefenacht[at]luks.ch
Dr. med. Susanne Rüfenacht
Infektiologie und Spitalhygiene
Luzerner Kantonsspital
Spitalstrasse
CH-6000 Luzern 16
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Verdankungen
Wir bedanken uns bei dem niedergelassenen Kollegen Dr. med. Guy Bourgeois und der niedergelassenen Kollegin Dr. med. Maurizia Ebneter, die das Manuskript kritisch gegengelesen haben.
Conflict of Interest Statement
Die Autorinnen und Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Author Contributions
Konzept: SR, MB, SK und PK; Methodologie: SR und PK; Arbeitsgruppe: alle Autorinnen und Autoren; Visualisierung: SR und TD; Schreiben, Überprüfen, Editieren: SR, TD, PK; Supervision: PK. Alle Autorinnen und Autoren haben das eingereichte Manuskript gelesen und sind für alle Aspekte des Werkes mitverantwortlich.

POT POTCHANAPANICHKUL

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