Die Langzeitversorgung bei Spina bifida: Mind the gap!
Schlaglicht: Physikalische Medizin und Rehabilitation

Die Langzeitversorgung bei Spina bifida: Mind the gap!

Medizinisches Schlaglicht
Ausgabe
2024/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2024.1448486893
Swiss Med Forum. 2024;24(33-34):400-402

Affiliations
a Schweizer Paraplegiker Zentrum, Nottwil
b Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin, Universität Luzern, Luzern
c Schweizer Paraplegiker Forschung, Nottwil
d Rehabilitationsmedizin, Spina Bifida Zentrum, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich
e Klinik für Kinderchirurgie, Kinderklinik Bern, Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern
f Departement für Urologie, Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern
g Institut für Sozial- und Präventivmedizin, Universität Bern, Bern

Publiziert am 14.08.2024

In einer Welt, die ständig vernetzt ist, ist die Langzeitversorgung für Menschen mit Spina bifida noch teils offline. Zeit, dies zu ändern.

Hintergrund

Kinder mit Spina bifida überleben heutzutage bis ins höhere Erwachsenenalter, jedoch sind die Ziffern der Mortalität nach wie vor ernüchternd. Je nach neurologischem Schweregrad überleben 17–61% der Betroffenen bis zum 40. Lebensjahr [1]. Eine reibungslose Transition von der personenzentrierten Kindermedizin zur Erwachsenenmedizin ist entscheidend für die Prävention von Gesundheitsproblemen bei erwachenden spezifischen Bedürfnissen und zunehmender Autonomie. Leider scheitert eine reibungslose Transition oft; bis zu 40% der Jugendlichen verlieren den Anschluss an eine spezialisierte Versorgung [2]. Grund dafür ist die oft fehlende Langzeitversorgung im Erwachsenenalter von Jugendlichen mit Spina bifida. Deshalb haben im Jahr 2015 das Schweizer Paraplegiker Zentrum (SPZ), das Kinderspital Zürich, das Kinderspital Bern und das Kinderspital Luzern die Initiative ergriffen und ein ganzheitliches medizinisches und rehabilitatives Angebot inklusive Transition für Jugendliche und Erwachsene mit Spina bifida entwickelt.
Diese Entwicklung ist Teil des «Learning Health Systems für Menschen mit Querschnittlähmung». Ein «Learning Health System» ist ein sich ständig weiterentwickelndes System, das aus Erfahrungen lernt. Die Daten werden kontinuierlich analysiert, um die Versorgung zu verbessern, innovative Lösungen zu fördern und die individuellen Ergebnisse der Patientinnen und Patienten zu optimieren. Es schlägt somit eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis. Teil der kontinuierlichen Entwicklung ist die Erstellung der Leitlinie «Lebenslange Nachsorge für Menschen mit Querschnittlähmung und Spina bifida» [3]. In der Vorbereitung der Leitlinienentwicklung wurden eine Studie zu den Bedürfnissen von Jugendlichen mit Querschnittlähmung und Spina bifida [4] sowie ein prospektive Beobachtungsstudie durchgeführt. Diese Beobachtungsstudie beleuchtete die Gesundheits- und Funktionsprofile junger Erwachsener mit Spina bifida während der Transition und prüfte somit die Übereinstimmung mit dem aktuellen Angebot im Transitionsprogramm.

Methode

Es handelte sich um eine deskriptive Studie mit Daten aller Jugendlichen mit Spina bifida im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, die im Rahmen des Transitionsprogramms an das SPZ überwiesen wurden. Erhoben wurden folgende Daten:
  1. demographische Daten (Alter, Geschlecht, Wohnort, Kinderspital);
  2. neurologisches Profil (neurologisches Niveau und Schweregrad der neurologischen Ausfälle; Anwesenheit von Hydrozephalus, Chiari-Malformation, ventrikulärem Shunt, «Tethered Cord Syndrome» [TCS]);
  3. Funktionsprofil (Selbstständigkeit im Alltag mittels «Spinal Cord Injury Measurement» [SCIM] [5], Mobilität analog dem «Gross Motor Function Classification System» [GMFCS], Schulungsstatus und benötigte Unterstützung für medizinische Angelegenheiten wie Hilfe bei Medikamenten, Begleitung bei Arztbesuchen, Bestellen von Rezepten);
  4. Gesundheitsprobleme zum Zeitpunkt der Transition.

Resultate

Demographisches Profil: Zwischen 2018 und 2023 wurden aus den Kinderspitälern (vorwiegend Luzern, Zürich und Bern) 43 Jugendliche mit Spina bifida in das Transitionsprogramm des SPZ aufgenommen, darunter 19 Männer. Das Durchschnittsalter lag bei 18,4 Jahren (Standardabweichung 2,5 Jahre) (Tab. 1).
Neurologisches Profil: Das neurologische Niveau der Spina bifida war in 25% thorakal, in 63% lumbal und in 12% sakral; in 72% der Fälle war die Läsion motorisch komplett (keine Sensibilität und Motorik im Sakralbereich). Bei 77% der Jugendlichen wurde neben der Spina bifida eine Chiari-Malformation diagnostiziert, 72% der Jugendlichen hatten einen ventrikulären Shunt.
Funktionsprofil: Die funktionelle Klassifikation mittels SCIM und analog dem GMFCS zeigte den Bedarf an Unterstützung in den Alltagsaktivitäten sowie bei medizinischen Interventionen und Therapien. 58% der Jugendlichen waren mehrheitlich im Rollstuhl mobilisiert und 60% auf Fremdhilfe für medizinische Aufgaben angewiesen, die meistens von den Eltern geleistet wurde.
Gesundheitsprobleme: Die von uns erfassten Gesundheitsprobleme zum Zeitpunkt der Transition waren häufig und vielfältig und sind in Abbildung 1 zusammengefasst.
Abbildung 1: Gesundheitsprobleme zum Zeitpunkt der Transition von der Kinder- zur Erwachsenenmedizin.
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Diskussion und Ausblick

Die Studie zur Transition bei Spina bifida offenbarte vielfältige Herausforderungen und Abweichungen zu den in der Literatur genannten Gesundheitsproblemen bei Erwachsenen mit Spina bifida. Zum Beispiel zeigte sich eine höhere Prävalenz von Harnwegsinfekten (58% gegenüber 30%) und Skoliose (79% gegenüber 44%) (Abb. 2) [6], jedoch eine niedrigere Prävalenz von Schmerzen (13% gegenüber 44%). Ein «Body Mass Index» (BMI) >22 kg/m2 war bei 74,4% der Jugendlichen feststellbar (mit einer angepassten Skala für Spina bifida werden jedoch 21% als übergewichtig klassifiziert) [7]. Die kognitive Prüfung von Jugendlichen während der Transition ergab häufiger kognitive Probleme als vorher bekannt, insbesondere bezüglich milder kognitiver Defizite. Hinsichtlich der Mobilität der Jugendlichen zeigte sich, dass 50% der Jugendlichen vorwiegend im Rollstuhl mobil sind. Hilfe beim Blasen- und Darmmanagement war zum Transitionszeitpunkt oft erforderlich und wurde meist von den Eltern geleistet.
Abbildung 2: Röntgenaufnahme (anteroposteriorer Strahlengang): Schwere rechtskonvexe Skoliose bei lumbaler Spina bifida.
Zusammenfassend verdeutlicht die Studie, dass neben zahlreichen Gesundheitsproblemen auch Alltags- und Selbstständigkeits-Herausforderungen bestanden, obwohl die Jugendlichen schon mehrheitlich volljährig waren. Somit ist der gewählte rehabilitative Ansatz unerlässlich für das Wohl dieser Jugendlichen. Regelmässige, interdisziplinäre Kontrollen im Erwachsenenalter und eine gut geplante und strukturierte Transition von der Pädiatrie zur Erwachsenenmedizin sind deshalb unerlässlich, nicht nur um eine erhöhte Morbidität und Mortalität zu vermeiden, sondern auch um die Funktionsfähigkeit und Autonomie zu optimieren [8]. Das Transitionsprogramm bildet somit eine Brücke zwischen Pädiatrie und Erwachsenenmedizin. Dabei zeigte sich, dass alle 43 Jugendlichen, die im Transitionsprogramm aufgenommen worden waren, die geplanten Jahreskontrollen wahrgenommen hatten. Unsere Ergebnisse dienen zudem dem Learning-Health-System-Ansatz, um das medizinische und rehabilitative Angebot stetig zu verbessern. Die Studienergebnisse beeinflussten zum Beispiel die Auswahl von Kategorien der «International Classification of Functioning, Disability and Health» (ICF) in der Leitlinie «Lebenslange Nachsorge für Personen mit Querschnittlähmung» und führten zu Anpassungen im Nachsorgemodell, einschliesslich einer kognitiven Evaluation und spezifischen Empfehlungen für Patientinnen und Patienten mit Shunt [3]. Sie fördern zudem innovative Lösungen wie den Ausbau der Transitionssprechstunde mit Telesprechstunden, Patientenapps und Schulungen zur Übernahme des Krankheitsmanagements.
KD Dr. med. Inge Eriks-Hoogland, PhD Schweizer Paraplegiker Zentrum, Nottwil
KD Dr. med. Inge Eriks-Hoogland, PhD
Schweizer Paraplegiker Zentrum
Guido A. Zäch-Strasse 1
CH-6207 Nottwil
inge.eriks[at]paraplegie.ch
1 Oakeshott P, Hunt GM, Poulton A, Reid F. Expectation of life and unexpected death in open spina bifida: a 40-year complete, non-selective, longitudinal cohort study. Dev Med Child Neurol. 2010;52(8):749–53.
2 Van Walleghem N, Macdonald CA, Dean HJ. Evaluation of a systems navigator model for transition from pediatric to adult care for young adults with type 1 diabetes. Diabetes Care. 2008;31(8):152930.
3 Eriks-Hoogland I, Baumberger M, Crone A, Huber B, Jordan X, Michel F, et al., Hrsg. S2k-Leitlinie Lebenslange Nachsorge für Menschen mit Querschnittlähmung; AWMF-Register-Nr. 179-014 [Internet]. Frankfurt a. Main: Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF); 2022 [Abruf am 28.06.2024]. Verfügbar unter: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/179-014
4 Benninger I, Lampart P, Mueller G, Augutis M, Eriks-Hoogland I, Grunt S, et al. Needs and research priorities for young people with spinal cord lesion or spina bifida and their caregivers: a national survey in Switzerland within the PEPSCI Collaboration. Children (Basel). 2022;9(3):318.
5 Palisano R, Rosenbaum P, Walter S, Russell D, Wood E, Galuppi B. Development and reliability of a system to classify gross motor function in children with cerebral palsy. Dev Med Child Neurol. 1997;39(4):214–23.
6 Heyns A, Negrini S, Jansen K, Moens P, Schelfaut S, Peers K, Kiekens C. The prevalence of scoliosis in spina bifida subpopulations: a systematic review. Am J Phys Med Rehabil. 2018;97(11):848–54.
7 Wong S, O’Connor L, Twist A, Moseley G, Langan R, Smith E, et al., Hrsg. Multidisciplinary Association for Spinal Cord Injury Professions (MASCIP) Guidelines for weight-management in individuals with spinal cord injury [Internet]. Aylesbury (UK): National Spinal Injuries Center; 2019. [Abruf am 28.06.2024]. Verfügbar unter: https://www.mascip.co.uk/wp-content/uploads/2019/10/03-May-2018-Wong-et-al-MASCIP-Weight-Management-Guidelines-for-People-with-a-Spinal-Cord-Injury.pdf
8 Gesellschaft für Transitionsmedizin. S3-Leitlinie Transition von der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin; AWMF-Register-Nr. 186-001 [Internet]. Frankfurt a. Main: Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF); 2021 [Abruf am 28.06.2024]. Verfügbar unter: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/186-001
Verdankung
Die Finanzierung der Transition war über viele Jahren dank privater Spenden möglich, wir bedanken uns dafür ganz herzlich. Ein weiteres Dankeschön geht an: Alexandra Wattinger und Prof. Andreas Meyer-Heim (KISPI Zürich), Prof. Dr. med. Sebastian Grunt (KISPI Bern), Sandra Shavit und Team (KISPI Luzern) und das Transitionssteam SPZ. Zuletzt danken wir dem Spina Bifida und Hydrocephalus Verein (SBH) für die Mithilfe bei der Erstellung der Leitlinie.
Conflict of Interest Statement
Die Autorinnen und Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Author Contributions
Konzept: IEH, LM, MS und JP; Methodologie: IEH; formale Analyse: MG; Visualisierung: MG; Schreiben/Überprüfen/Editieren: IEH, LM, MS; Supervision: IEH. Alle Autorinnen und Autoren haben das eingereichte Manuskript gelesen und sind für alle Aspekte des Werkes mitverantwortlich.

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