Insulinom: selten, aber unverkennbar
Diagnostisches Workup essentiell
Peer-review

Insulinom: selten, aber unverkennbar

Der besondere Fall
Ausgabe
2024/21
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2024.1244994361
Swiss Med Forum. 2024;24(21):264-266

Affiliations
Spital Limmattal, Schlieren: a Medizinische Klinik
b Institut für diagnostische und interventionelle Radiologie

Publiziert am 22.05.2024

* Geteilte Erstautorschaft

Hintergrund

Das Insulinom ist zwar ein seltenes Krankheitsbild, dabei jedoch einer der häufigsten pankreatischen sezernierenden neuroendokrinen Tumoren [1]. Es stellt die häufigste Ursache einer endogenen hyperinsulinämen Hypoglykämie bei nichtdiabetischen Patientinnen und Patienten dar und tritt mit einer Inzidenz von 1–4 Fällen pro Million Personen pro Jahr und einem Peak zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr auf [2]. Der Zusammenhang zwischen einer Hyperinsulinämie und einem funktionellen Tumor der pankreatischen Inselzellen wurde bereits 1927 von William J. Mayo, dem berühmten amerikanischen Chirurgen und Begründer der heute weltweit bekannten Mayo Clinic, hergestellt [3]. Bis zu 10% der Fälle sind mit einer multiplen endokrinen Neoplasie vom Typ 1 (MEN-1) assoziiert, insbesondere bei jüngeren Patientinnen und Patienten.
Klassischerweise erfolgt die Diagnose des Insulinoms über die sogenannte Whipple-Trias. Diese beinhaltet die Dokumentation einer Blutglukose <3 mmol/l, Symptome einer Neuroglykopenie sowie eine umgehende Regredienz der Klinik nach Glukosegabe [4]. Jedoch kann sich das klinische Bild, vor allem jenes der Neuroglykopenie, variabel präsentieren. Es kann von Verwirrung, Konzentrationsstörungen und Kribbelparästhesien bis hin zu Verhaltensstörungen und Krampfanfällen reichen [5]. Aus diesem Grund erfordert die Sicherung der Diagnose eines Insulinoms neben der Whipple-Trias die Durchführung eines oralen Glukosetoleranztests sowie eines 72-Stunden-Fastentests [6].
Nachfolgend wird der Fall eines jungen Patienten diskutiert, anhand dessen die Notwendigkeit und die Zielführung eines sorgfältigen diagnostischen Workups hervorgehoben werden soll.

Fallbeschreibung

Anamnese

Die notfallmässige Vorstellung des 28-jährigen Patienten erfolgte bei passagerer Absence, Kaltschweissigkeit, Zittern und allgemeinem Schwächegefühl seit dem Morgen des Vorstellungstags. Er berichtete über rezidivierende derartige Episoden seit etwa zehn Jahren, gehäuft bei Nahrungskarenz. Ebenso sei am Vorstellungstag erst sehr spät seine erste Nahrungsaufnahme erfolgt.
Der Patient habe im Alter von 17 Jahren unter paroxysmalen Tachykardien gelitten. Diese hätten im Rahmen einer elektrophysiologischen Untersuchung einer atrioventrikulären (AV-)Knoten-Reentrytachykardie (AVNRT) zugeordnet werden können und seien nach erfolgter Ablation nicht mehr aufgetreten. Im Rahmen präinterventioneller Abklärungen hätten sich damals neurologisch keine pathologischen Befunde gezeigt, laborchemisch habe man jedoch hypoglykäme Blutzuckerwerte festgestellt. Diese seien jedoch nicht weiter abgeklärt worden. Die heutigen sowie die vorangegangenen Symptomepisoden würden sich deutlich von jenen der AVNRT unterscheiden. Im Vorfeld habe der Patient – mit dem Blutzuckermessgerät der Grossmutter – Werte bis minimal 2,6 mmol/l gemessen. Der Konsum von Nahrung oder zuckerhaltigen Getränken verschaffe dabei jeweils eine rasche Linderung. Zudem habe er in den letzten drei Jahren 5 kg Körpergewicht zugenommen.
Die Systemanamnese war blande, insbesondere verneinte der Patient grippale Symptome, eine B-Symptomatik oder das Vorliegen einer endokrinologischen Erkrankung.

Status

Es präsentierte sich ein allseits orientierter, hämodynamisch stabiler und afebriler Patient in normalem Ernährungszustand. In der klinischen Untersuchung zeigten sich keine Auffälligkeiten.

Befunde

Laborchemisch fand sich ein tiefer Blutzucker von 3,8 mmol/l als einziger pathologischer Befund. Hämoglobin, Entzündungsparameter, Kreatinin, Elektrolyte, Thyroidea-stimulierendes Hormon (TSH) und Hämoglobin A1c (HbA1c) waren normwertig. Im Elektrokardiogramm (EKG) zeigte sich ein normokarder Sinusrhythmus mit normwertigen Zeiten ohne Hinweise auf eine De- oder Repolarisationsstörung.

Diagnose

Nach intravenöser Hydratation sowie Gabe von Orangensaft und Brot auf der Notfallstation zeigte sich die Klinik vollständig regredient. Der Blutzucker stieg auf 6,8 mmol/l. Darauf erfolgte eine elektive stationäre Aufnahme zum oralen Glukosetoleranztest (oGTT) und anschliessenden 72-Stunden-Fastentest. Letzterer war pathologisch und wurde bei adrenergen Symptomen sowie Neuroglykopenie (Abfall im Mini Mental Status von 29 auf 23 und im Uhrentest von 7 auf 4 Punkte) nach 18 Stunden abgebrochen.
Laborchemisch hatte der Patient zu diesem Zeitpunkt eine Hypoglykämie von 1,8 mmol/l, der Insulinspiegel betrug 52 pmol/l, das C-Peptid 0,4 nmol/l. Im Verhältnis zum Blutzuckerspiegel war das Insulin folglich zu hoch. Das ebenfalls erhöhte C-Peptid, das bei einer exogenen Insulinzufuhr erniedrigt gewesen wäre, wies auf die endogene Komponente der Hyperinsulinämie hin. Das β-Hydroxybutyrat als Surrogatmarker für die Ketogenese war mit 729 µmol/l nach 18 Stunden zu tief, dieses hätte bei normalem Fastentest mit entsprechend inhibierter Insulinsekretion sowie gegenregulatorischer Lipolyse und Ketogenese stärker ansteigen müssen [7].
Nach intravenöser Gabe von Glukose zeigte sich die Klinik wiederum vollständig regredient. Eine selbstinduzierte Hypoglykämie wurde dreimalig (Notfallstation, beim stationären Eintritt sowie nach Abbruch des Fastentestes) mittels serologischer Testung auf C-Peptid und Sulfonylharnstoffe ausgeschlossen. Ebenso war das Basal-Cortisol am Tag nach dem Fastentest normwertig, sodass ein Cortisolmangel als Ursache der Hypoglykämie ausgeschlossen werden konnte.
Bei zweimalig beobachteter Whipple-Trias und pathologischem Fastentest mit einer endogenen hyperinsulinämen Hypoglykämie ergab sich der hochgradige Verdacht auf ein Insulinom.
Zur weiterführenden Diagnostik erfolgte eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Abdomens. Dabei ergab sich eine 2,6 × 1,8 cm grosse, kräftig arteriell kontrastmittelaufnehmende, T2-gewichtet hyperintense Raumforderung im Pankreasschwanz. Zudem wies die Raumforderung eine Diffusionsrestriktion auf (Abb. 1).
Abbildung 1: Magnetresonanztomogramm des Pankreas, Transversalschnitte: A) T2-gewichtete SPIR-MVXD-Sequenz: hypervaskuläre Raumforderung (2,6 × 1,8 cm) dorsal im Pankreasschwanz (Pfeil), gut passend zu neuroendokriner Neoplasie. Keine vergrösserten Lymphknoten abgrenzbar. B) Arterielle Dixon-Sequenz: korrespondierend hypervaskularisierte, kräftig arteriell kontrastmittelaufnehmende Raumforderung im Pankreasschwanz (Pfeile). C, D) Diffusionsgewichtete Sequenz (C : B800 und D : ADC): Nachweis einer Diffusionsrestriktion im Bereich der Raumforderung im Pankreasschwanz (Pfeil).
ADC: Apparent Diffusion Coefficient; MVXD: MultiVane XD; SPIR: Spectral Presaturation with Inversion Recovery.
Insulinome exprimieren primär «Glucagon-like Peptide 1»-(GLP-1-)Rezeptoren und können daher mittels Positronenemissionstomographie-Computertomographie (PET-CT) mit GLP-1-Exendin-4 mit einer Sensitivität von >97% lokalisiert werden [8]. Die weltweit ersten derartigen Scans wurden am Universitätsspital Basel durchgeführt, so auch die präoperativen Scans des Patienten (Abb.2). Beim Patienten zeigte sich eine singuläre 2,8cm grosse GLP-1-positive Anreicherung im Pankreasschwanz ohne Zeichen einer Infiltration oder Metastasierung.
Abbildung 2: GLP-1-Exendin-4-PET-CT vom Abdomen, Transversalschnitt: Ausgeprägte 68 Gallium-Exendin-4-Anreicherung der Raumforderung im Pankreasschwanz mit teils exophytischem Wachstum. Aufgrund der renalen Ausscheidung sowie hoher tubulärer Rückresorption von 68 Gallium-Exendin-4 zeigt sich dort ebenfalls eine starke Anreicherung.
GLP-1: Glucacon-like Peptide 1; PET-CT: Positronenemissionstomographie-Computertomographie.

Therapie

Der Patient wurde zur milzerhaltenden laparoskopischen Pankreaslinksresektion mit intraoperativer Pankreassonographie und Resektion der Nebenmilz an ein Zentrumsspital überwiesen. Die Intervention war erfolgreich und es folgte ein komplikationsloser postoperativer Verlauf.

Verlauf

Histologisch zeigte sich im Resektat ein unifokaler, solider Tumor am kaudo-dorsalen Pankreasrand im Bereich des Pankreasschwanzes mit demarkierten Abständen zu den Pankreasresektionsrändern.
Der Patient erholte sich nach dem Eingriff sehr gut und gab im weiteren Verlauf an, sich deutlich vitaler als davor zu fühlen, einzig klagte er über eine eingeschränkte Alkoholtoleranz. In der Abschlusskontrolle wurde ihm geraten, sich insbesondere bei Familienwunsch einer genetischen Testung auf eine MEN-1 zu unterziehen.

Diskussion

Das vor fast 100Jahren erstmalig beschriebene Insulinom ist und bleibt ein seltenes Krankheitsbild, das sich durch eine umfassende Anamnese mit entsprechender Diagnostik jedoch schnell diagnostizieren lässt. Die Pathologiebefunde lassen sich durch folgende 90%-Assoziationen festhalten: 90% sind solitäre Adenome, 90% davon sind benigne, 90% davon haben einen Durchmesser von <2cm und 90% sind im Pankreas lokalisiert [9]. Im Falle unseres Patienten konnte durch die rasche Assoziation bei der erstmaligen Vorstellung auf der Notfallstation, die zeitnahe erweiterte Diagnostik im stationären Setting sowie die unverzügliche Überweisung an ein Zentrumsspital nach Diagnosesicherung eine optimale Versorgung gewährleistet werden. Es gilt hervorzuheben, dass die Symptome der Neuroglykopenie gemäss Whipple-Trias absolut zentral sind. Ferner sollte man bei jeder unklaren Hypoglykämie auf der Notfallstation das Insulin und C-Peptid sowie einen venösen Blutzucker direkt mitbestimmen. Gelingt es nämlich bereits im Notfallsetting, die inadäquate Regulation aufzuzeigen, kann man auf den 72-Stunden-Fastentest im stationären Setting verzichten und somit Zeit und Ressourcen einsparen.
Das in der Medizin altbewährte Sprichwort «Häufiges ist häufig, Seltenes ist selten» hat durchaus seine Daseinsberechtigung und hilft, den klinischen Fokus zu schärfen. Dabei soll und darf das Seltene jedoch nicht ausser Acht geraten – unsere Patientinnen und Patienten werden es uns danken.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Die Whipple-Trias weist auf ein Insulinom hin: Symptome einer Neuroglykopenie, Blutglukose <3mmol/l sowie eine umgehende Regredienz der Klinik nach Glukosegabe.
  • Bei jeder unklaren Hypoglykämie auf der Notfallstation sollten Insulin, C-Peptid sowie ein venöser Blutzucker bestimmt werden.
  • Die Diagnosesicherung erfolgt durch einen oralen Glukosetoleranztest (oGTT) und einen 72-Stunden-Fastentest.
  • Selbstinduzierte Hypoglykämien durch Sulfonylharnstoffe müssen ausgeschlossen werden.
  • Insbesondere bei Betroffenen <30Jahren gilt es, das Vorliegen einer multiplen endokrinen Neoplasie vom Typ1 (MEN-1) zu überprüfen.
Lukas Storz, dipl. Arzt Medizinische Klinik, Spital Limmattal, Schlieren
Dr. med. Rubén Fuentes Artiles Medizinische Klinik, Spital Limmattal, Schlieren
Lukas Storz
Institut für Anästhesiologie
Stadtspital Zürich
Birmensdorferstrasse 497
CH-8055 Zürich
lukas.storz[at]stadtspital.ch
1 Sada A, Habermann EB, Szabo Yamashita T, Thompson GB, Lyden ML, Foster TR, et al. Comparison Between Sporadic and Multiple Endocrine Neoplasia Type 1-Associated Insulinoma. J Am Coll Surg. 2022;235(5):756–63.
2 De Herder WW, Niederle B, Scoazec JY, Pauwels S, Kloppel G, Falconi M, et al. Well-differentiated pancreatic tumor/carcinoma: insulinoma. Neuroendocrinology. 2006;84(3):183–8.
3 Shin JJ, Gorden P, Libutti SK. Insulinoma: pathophysiology, localization and management. Future Oncol. 2010;6(2):229–37.
4 Valente LG, Antwi K, Nicolas GP, Wild D, Christ E. Clinical presentation of 54 patients with endogenous hyperinsulinaemic hypoglycaemia: a neurological chameleon (observational study). Swiss Med Wkly. 2018;148:w14682.
5 Fayyaz F, Reardon MF, Byrne L. Insulinoma as a cause of seizure-like activity and spontaneous hypoglycaemia. BMJ Case Rep. 2023;16(1):e250799.
6 Service FJ. Hypoglycemic disorders. N Engl J Med. 1995;332(17):1144–52.
7 Vella A. Insulinoma [Internet]. 01.12.2022 [abgerufen am 21.02.2023]. Verfügbar unter: https://www.uptodate.com/contents/insulinoma
8 Antwi K, Fani M, Heye T, Nicolas G, Rottenburger C, Kaul F, et al. Comparison of glucagon-like peptide-1 receptor (GLP-1R) PET/CT, SPECT/CT and 3T MRI for the localisation of occult insulinomas: evaluation of diagnostic accuracy in a prospective crossover imaging study. Eur J Nucl Med Mol Imaging. 2018;45(13):2318–27.
9 Okabayashi T, Shima Y, Sumiyoshi T, Kozuki A, Ito S, Ogawa Y, et al. Diagnosis and management of insulinoma. World J Gastroenterol. 2013;19(6):829–37.
Verdankung
An dieser Stelle möchten wir uns bei PDDr.med. Freitag von der Klinik für Nuklearmedizin des Universitätsspitals Zürich für die PET-CT-Aufnahmen sowie deren Befundung bedanken.
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