Amyotrophe Lateralsklerose
Aktuelle und neue Therapien
Peer-review

Amyotrophe Lateralsklerose

Übersichtsartikel
Ausgabe
2024/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2024.1174071777
Swiss Med Forum. 2024;24:1174071777

Affiliations
a Unité des maladies neuromusculaires, Service de neurologie, Département des neurosciences cliniques, Hôpitaux Universitaires de Genève, Genève
Service de neurologie, Réseau Hospitalier Neuchâtelois, Neuchâtel
c Neurologie, Hôpital Fribourgeois, Fribourg

Publiziert am 26.08.2024

Die amyotrophe Lateralsklerose ist die häufigste Motoneuronerkrankung bei Erwachsenen. Die neuesten Forschungsarbeiten haben zu einem besseren Verständnis der Pathophysiologie geführt, sie reichen jedoch nicht aus, um wirksame Behandlungsoptionen zu entwickeln. Die jüngsten Fortschritte in der Gentechnik stellen einen vielversprechenden Ansatz dar. Die Ergebnisse der laufenden präklinischen Versuche mit Stammzellen und immunmodulierenden Behandlungen sind ermutigend.

Einleitung

Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine neurodegenerative Erkrankung der Motoneuronen, die durch eine fortschreitende Muskelschwäche geprägt ist und zu schwerer Behinderung und schliesslich zum Tod führt. In der Schweiz beträgt die Prävalenz von ALS 5–6/100 000 Personen und die Inzidenz 2–3/100 000 Personen pro Jahr. Die mediane Überlebenszeit liegt zwischen zwei und vier Jahren ab dem Auftreten der Symptome. Die meisten Fälle treten sporadisch auf, rund 10% sind erblich bedingt (familiäre Form) [1]. Etwa 70% der familiären Formen lassen sich teilweise genetisch erklären [2]. Bestimmte Mutationen führen zu typischen Phänotypen, etwa an SOD1, FUS, TARDBP, ANG, OPTN und C9orf72. Andererseits können einige tardive und sporadische Formen von ALS mit einem genetischen Defekt (Mutationen wie I113T an SOD1) in Verbindung gebracht werden, auch wenn keine familiäre Häufung vorliegt. Obwohl eine Assoziation mit anderen neurodegenerativen Erkrankungen beschrieben wurde, konnte keine genetische Verbindung festgestellt werden [3].
Das klinische Bild der ALS ist durch die klinischen Anzeichen einer Schädigung des ersten (Spastik, Hyperreflexie) und zweiten Motoneurons (Faszikulationen, Muskelschwäche, Amyotrophie) gekennzeichnet. In den meisten Fällen sind die distalen Muskeln und Extensoren schwerer und früher betroffen als die proximalen Muskeln und Flexoren. In der Regel hat die anfängliche motorische Beeinträchtigung eine asymmetrische Verteilung und herrscht meist in der dominanten Extremität vor [4]. Obwohl die Hauptsymptome der ALS mit einer motorischen Dysfunktion einhergehen, entwickeln bis zu 50% der Patientinnen und Patienten im Verlauf der Krankheit eine kognitive und/oder verhaltensbezogene Beeinträchtigung und 13% weisen eine begleitende frontotemporale Demenz («behavioral variant frontotemporal dementia» [bv-FTD]) auf [5]. Wichtige Punkte bei der Diagnose der amyotrophen Lateralsklerose sind in Tabelle 1 beschrieben.
Die Pathophysiologie der ALS ist gekennzeichnet durch einen veränderten Glutamatstoffwechsel, mitochondriale Dysfunktion, Neuroinflammation und Anomalien der Zytoskelettproteine, die die Zirkulation und die Teilung der Zellen behindern. Dies kann zur Neurodegeneration beitragen [5]. Das klinische Bild der Krankheit ist sehr heterogen und erfordert eine individuell zugeschnittene Behandlung. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, gezielte und innovative Therapien in Betracht zu ziehen [6]. Zurzeit gibt es keine kurative Behandlung der ALS. Auch wenn in den letzten Jahren zahlreiche Studien durchgeführt wurden, ist es aufgrund der unterschiedlichen Studiendesigns und der Heterogenität der Krankheit oft schwierig, die Wirksamkeit der Therapie zu bewerten. In Anbetracht dessen wurden Empfehlungen erarbeitet, um die Lücken zwischen den verschiedenen Arten klinischer Studien zu schliessen [7].
Derzeit gibt es zwei von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde («Food and Drug Administration» [FDA]) zugelassene Wirkstoffe, die auf unspezifische pathophysiologische Faktoren abzielen: Riluzol [8] und Edaravon [9]. Leider wirken sich diese beiden Arzneimittel nur wenig auf das Fortschreiten der Krankheit aus [10, 11]. Jüngste Fortschritte im Verständnis des genetischen Aspekts der ALS haben indes die Entwicklung eines Gen-Stilllegung-Ansatzes (Gen-Silencing) und anderer Therapien gefördert, die auf die Immunität und die Neuroinflammation abzielen [12–15]. Darüber hinaus liegen mehrere klinische Studien der Phase I/II mit mesenchymalen Stammzellen vor, die über parakrine Mechanismen auf die Motoneuronen einwirken [16–18].
In dieser Übersichtsarbeit stellen wir die zugelassenen Arzneimittel vor und erörtern zukünftige Behandlungen, insbesondere Gen-, Immun- und Zelltherapien. Wir gehen nicht ein auf die symptomatische medikamentöse Behandlung der ALS im Zusammenhang mit der Pyramidenbahnschädigung, den Atem- und Schluckbeschwerden, der kognitiven Beeinträchtigung und den Schmerzen oder auf die nicht medikamentöse Behandlung.

Wirkstoffe, die auf der Blockade der Exzitotoxizität beruhen

Riluzol war in den 1990er Jahren das erste Arzneimittel, das zur Behandlung von ALS auf den Markt kam. Sein Hauptwirkmechanismus besteht darin, die Freisetzung von Glutamat aus den Motoneuronen zu blockieren. Die orale und tägliche Gabe von 100 mg verlängert laut der Zulassungsstudie im Vergleich zum Placebo das Überleben um drei Monate und verlangsamt das Fortschreiten der Muskelschwäche. Der Wirkstoff hat allerdings nur eine minimale Wirkung auf die Lebensqualität (QoL) [8, 19]. Riluzol wird oral in einer Dosis von 50 mg zweimal täglich verabreicht.
Edaravon ist ein Radikalfänger, der das Absterben von Motoneuronen durch Verringerung des oxidativen Stresses hemmt [20]. Im Jahr 2017 wurde Edaravon aufgrund einer randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten japanischen Phase-III-Studie für die Behandlung von ALS zugelassen. In diese Studie wurden nur Patientinnen und Patienten eingeschlossen, die eine kurze Krankheitsdauer (≤2 Jahre) sowie eine forcierte Vitalkapazität von ≥80% aufwiesen und weiterhin den meisten Aktivitäten des Alltags nachgehen konnten. Das Hauptziel bestand darin, die Krankheitsprogression, gemessen anhand der revidierten Funktionsbewertungsskala («Revised Amyotrophic Lateral Sclerosis Functional Rating Scale» [ALSFRS-R]), während der ersten sechs Monate der Behandlung zu beurteilen. Es zeigte sich, dass Edaravon laut dieser Skala zu einer signifikanten Verringerung der Krankheitsprogression führt (–5,1 Punkte in der Edaravon- gegenüber –7,5 Punkte in der Placebo-Gruppe) [9]. Eine aktuelle multizentrische Kohortenstudie, die zwischen 2017 und 2020 in Deutschland durchgeführt wurde, konnte die langfristigen positiven Auswirkungen der Behandlung jedoch nicht bestätigen. Die Wirksamkeit wurde bei Patientinnen und Patienten analysiert, die mindestens vier Behandlungszyklen erhalten hatten, im Vergleich zu solchen, die anhand des Propensitätsscores gematcht wurden und nur eine Standardbehandlung erhalten hatten. Es ergab sich kein Hinweis auf einen Unterschied zwischen den beiden Gruppen in Bezug auf die Krankheitsprogression gemäss der ALSFRS-R. Zudem wurde kein Unterschied bei den sekundären Endpunkten Überleben und Beatmung festgestellt [11]. Edaravon wird intravenös verabreicht. Die orale Form wurde zwar von der FDA zugelassen, befindet sich aber noch in der Evaluationsphase (NCT04569084 und NCT05151471).

Genetische Biotherapien

Genetische Biotherapien umfassen die Applikation genetischen Materials an Zellen, um 1. funktionelle Kopien von Genen, 2. trophische Faktoren und andere krankheitsmodifizierende Gene einzuführen oder 3. die Expression schädlicher Gene zu reduzieren, dies unter Verwendung von Antisense-Oligonukleotiden (ASO), durch RNS-Interferenz oder durch eine Gen-Editierungstechnik wie CRISPR («Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats»).
Die RNS-Interferenz («small interfering RNA» oder siRNA) ist zu einem neuen Werkzeug in der genetischen Pharmakologie geworden. Das Ziel ist, einen «natürlichen» Prozess der posttranskriptionellen Regulierung der Genexpression zu nutzen. Es geht also darum, einen Vektor bereitzustellen, der das Zielgen durch Hemmung der Produktion des schädlichen Proteins stilllegen kann (Gen-Silencing durch microRNA [miRNA]). Dies ist beim Superoxiddismutase-1-Gen (SOD1) der Fall, das als eine mit ALS assoziierte genetische Ursache identifiziert wurde.
ASO verknüpfen ausgewählte, spezifische RNS-Sequenzen, um die Proteinsynthese zu unterbrechen und die Ansammlung anormaler Proteine zu verhindern. Dieser Ansatz wird bereits bei der Behandlung der spinalen Muskelatrophie und der hereditären Transthyretin-Amyloidose eingesetzt und zeigt in klinischen Studien und unter realen Behandlungsbedingungen positive Ergebnisse [21, 22]. Tofersen ist ein ASO, das intrathekal verabreicht wird und die Schädigung der SOD1-Boten-RNS (mRNA) beeinflusst, um die Proteinsynthese zu regulieren [12]. Die vorläufigen Ergebnisse der Phase III der VALOR-Studie, die im Oktober 2021 von Biogen bekannt gegeben wurden, zeigen, dass das Hauptziel nicht erreicht wurde. Tofersen führte im Vergleich zum Placebo zur stärkeren Reduktion der Konzentrationen von SOD1 im Liquor und der leichten Ketten von Neurofilamenten im Plasma. In der Untergruppe mit schnellerer Progression war die Veränderung des ALSFRS-R-Scores in Woche 28 jedoch nicht signifikant unterschiedlich (–6,98 mit Tofersen und –8,14 mit Placebo) [23]. Die Autorinnen und Autoren berichten hingegen von ermutigenden Ergebnissen bei den sekundären Endpunkten, darunter die motorische Funktion, die Atemfunktion und die Lebensqualität.
Eine weitere Strategie besteht darin, im präsymptomatischen Stadium der ALS zu handeln, um die Wahrscheinlichkeit einer Wirksamkeit zu erhöhen. Eine noch laufende Studie zu Tofersen befasst sich mit einer präsymptomatischen Population, die eine Mutation des SOD1-Gens und einen hohen Neurofilamentwert aufweist (Studie NCT04856982). Bei bv-FTD, die mit ALS assoziiert ist und mit dem C9orf72-Gen in Verbindung steht, wurden mehrere ASO-Moleküle untersucht, deren Wirksamkeit in experimentellen Modellen nachgewiesen wurde. Allerdings führte die Behandlung im Vergleich zum Placebo zu keiner klinischen Verbesserung. Ein neues ASO (ISO363) für die Behandlung von Menschen mit ALS und FUS-Mutation wird derzeit geprüft (NCT04768972).
Die Gen-Stilllegung mit viralen Vektoren hat sich zu einer relevanten Option entwickelt. Präklinische Tiermodelle zeigten eine Reduktion der SOD1-mRNA-Spiegel in den Motoneuronen des Rückenmarks [15]. Die ersten Versuche einer intrathekalen Infusion von miRNA, die mithilfe Adeno-assoziierter Viren (AAV) transportiert wird, wurden bei zwei Patienten mit der familiären Form der SOD1-ALS durchgeführt [14]. Da das C9orf7-Gen die häufigste genetische Ursache von ALS ist, könnte ein auf dieses Gen gerichteter AAV-Vektor interessant sein [24].
Die neue Technik, die auf gruppierten, kurzen, palindromischen DNS-Wiederholungen mit regelmässigen Abständen beruht, ist eine revolutionäre Methode zur Modifizierung von Genen, indem präzise Schnitte in DNS-Stränge gemacht werden. Diese Methode wirkt – im Gegensatz zu anderen Wirkstoffen, die auf die RNS abzielen – direkt auf die DNS und unterdrückt das pathogene Gen in der DNS-Sequenz. Dieser Ansatz wurde erfolgreich im Mausmodell SOD1G93A getestet, bei dem die In-vivo-Modifizierung des Genoms die Expression von mutierter SOD1 verringerte, den Ausbruch der Krankheit verzögerte und die Überlebenschancen erhöhte [25].

Neuroinflammation im Visier

Mehrere wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass die Neuroinflammation eine wichtige Rolle in der Pathogenese der ALS spielt. Das Fortschreiten der Krankheit wird durch aktivierte Mikroglia und Entzündungsreaktionen beschleunigt [26].
Verschiedene Klassen entzündungshemmender Wirkstoffe haben die klinische Prüfung nicht bestanden: Pioglitazon, Minocyclin, NP001, Pentoxifyllin und Ono-2506 (ein Modulator der Astrozytenaktivität) [15].
Masitinib, ein oraler Tyrosinkinase-Inhibitor, hat in präklinischen Studien vielversprechende Ergebnisse gezeigt. Eine randomisierte klinische Studie, in der Masitinib (4,5 mg/kg/Tag) als Zusatztherapie getestet wurde, ergab eine Verbesserung des ALSFRS-R-Scores von –1,1 Punkten im Vergleich zum Placebo (n = 45 bzw. n = 62) [27]. Die Studie zeigte eine Verlängerung der Überlebenszeit von mehr als zwei Jahren und eine Verringerung des Sterberisikos um 47% gegenüber dem Placebo.
Fasudil wurde in Japan zur Behandlung von Vasospasmen zugelassen, die nach einer Subarachnoidalblutung auftreten. In einer klinischen Studie wurde festgestellt, dass Fasudil in Tiermodellen neuroprotektive Eigenschaften aufweist [28]. Diese multizentrische, doppelblinde Studie, die sich derzeit in Phase II befindet, zielt darauf ab, die Sicherheit, Verträglichkeit und Wirksamkeit von Fasudil in zwei verschiedenen Dosierungen im Vergleich zu Placebo zu analysieren. Die vorläufigen Daten zeigen bei den ersten drei Teilnehmenden (zwei Frauen, ein Mann) eine gute Verträglichkeit [29].
Untersucht wurden auch andere Strategien, die auf verschiedene Komponenten der Entzündungskaskade abzielen, etwa auf das Komplementsystem. Ravulizumab, ein Arzneimittel aus der Gruppe der monoklonalen Antikörper, das so konzipiert ist, dass es an das Komplementprotein C5 bindet, wurde zur Behandlung von ALS getestet. Wirksamkeit und Sicherheit wurden in der multizentrischen, randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten klinischen Studie CHAMPION-ALS (NCT04248465) geprüft, die jedoch mangels Wirksamkeit abgebrochen wurde.

Zelltherapie

Stammzellen (SZ) zeichnen sich durch ihre Fähigkeit zur Selbsterneuerung, die Erzeugung verschiedener Zelltypen durch Differenzierung und die Stimulierung der Gewebereparatur und -regeneration aus [30]. Die Zelltherapie gegen ALS beruht auf zwei Hauptstrategien: Transplantation neuronaler SZ, um verlorene und absterbende Motoneuronen zu ersetzen, oder Transplantation nichtneuronaler SZ, um gesunde Motoneuronen durch parakrine Mechanismen zu schützen [30]. Die Zelltherapie, die auf neuronale SZ zurückgreift, ist mit mehreren Schwierigkeiten verbunden: Die meisten Studien verwenden fötales Nervengewebe, die SZ müssen unverzüglich in das Vorderhorn des Rückenmarks injiziert werden und ihre Anwendung erfordert eine langfristige Immunsuppression, während Studien an Tiermodellen nur einen begrenzten Nutzen zeigen. Daher konzentrieren sich die aktuellen Studien mit SZ auf die autologe Transplantation nichtneuronaler SZ mit positiven Ergebnissen im Tiermodell und in explorativen Studien an Menschen mit ALS [30, 31]. Die Methode zur Isolierung mesenchymaler Stromazellen (MSC) ist einfach und sicher [30]. Die Technik, bei der die MSC aus dem Knochenmark isoliert, in vitro entwickelt und dann intrathekal infundiert werden, scheint effektiver zu sein als die subkutane Infusion auf der Grundlage von peripherem Blut. Die Studien zeigen jedoch nur vorübergehende Fortschritte, was wahrscheinlich auf die kleine Stichprobe, die Verwendung inhomogener Protokolle und die kurzen Nachbeobachtungszeiträume zurückzuführen ist. Der am besten geeignete SZ-Typ, Dosis und Anzahl der Injektionen, der Applikationsweg und das ideale Zeitfenster für den Behandlungsbeginn müssen noch in standardisierten klinischen Studien ermittelt werden.

Andere Therapien

In einem kombinierten Ansatz zielt das Präparat AMX0035, das aus der Kombination von Tauroursodeoxycholsäure und Natriumphenylbutyrat besteht, auf den Schutz der Nervenzellen vor Veränderungen ab, die durch Zellstress verursacht werden. Die Behandlung mit AMX0035 verlängert die mediane Überlebenszeit von Menschen mit ALS im Vergleich zu Placebo um zehn Monate, wie die neue Analyse der Phase II/III der CENTAUR-Studie zeigt. Die Überlebenszeit war bei jenen Personen, die in der Verlängerungsstudie weiterhin AMX0035 erhielten, länger [32].
Es wird ständig daran gearbeitet, die Sicherheit und Wirksamkeit von Wirkstoffen zu bewerten, die bereits in anderer klinischer Indikation zugelassen sind: Tauroursodeoxycholsäure zur Behandlung chronischer Lebererkrankungen oder die Kombination von Dolutegravir, Abacavir und Lamivudin zur HIV-Behandlung. Hohe Dosen von Methylcobalamin haben sich als wirksam zur Verlangsamung der Krankheitsprogression (43%) erwiesen, gemessen anhand der ALSFRS-R [33]. Eine vielversprechende Technik zielt auf die Aggregation fehlkonfigurierter Proteine ab, die zur Neurodegeneration beitragen. Die Expression von DNAJB14-FL («full-length») erhöht die Mobilität von FUSmut-Aggregaten und stellt die Proteostase in den Zellen und primären Neuronen, die FUSmut-Aggregate enthalten, wieder her [34]. Neben der Förderung der Disassemblierung von Proteinaggregaten besteht eine weitere Möglichkeit darin, die Bildung von Aggregaten zu verhindern, indem man in den Prozess eingreift, der als «Flüssig-Flüssig-Phasentrennung» bezeichnet wird. Der Prozess beruht auf dem Prinzip, dass Makromoleküle in einer flüssigen Phase zu Strukturen mit flüssigkeitsähnlichen dynamischen Eigenschaften kondensieren [15]. Strategien zur Hemmung der Aggregatbildung werden im Zusammenhang mit verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen untersucht.
Troponin-Chelatoren («Troponin-Binder») werden gemäss dem Prinzip entwickelt, dass eine Steigerung der Muskelkontraktion den Abbau der Muskelkraft verlangsamt. Reldesemtiv ist ein schneller Aktivator des Skelettmuskel-Troponins, der den Rückgang der Muskelfunktion verlangsamen soll. In der randomisierten, doppelblinden Phase-II-Studie FORTITUDE-ALS, die über zwölf Wochen lief, wurden die Sicherheit, die Dosis-Wirkung-Beziehung und die vorläufige Wirksamkeit von Reldesemtiv bei ALS untersucht. Obwohl das Ergebnis der Hauptanalyse der Wirksamkeit nicht signifikant war, wurden Ergebnisse zugunsten von Reldesemtiv in Bezug auf den respiratorischen und funktionellen Abbau und den Verlust an Muskelkraft beobachtet [35]. Die Phase-III-Studie mit dem Titel COURAGE-ALS wird die Entwicklung der Muskelschwäche (ALSFRS-R) über 24 Wochen bewerten. Tabelle 2 fasst die laufenden klinischen Studien über ALS zusammen.

Schlussfolgerungen

Die Wirkstoffe, die in den jüngsten klinischen Studien die stärkste therapeutische Wirkung gezeigt haben, sind Methylcobalamin, Masitinib, AMX0035 und Tofersen. Vor Kurzem hat die FDA AMX0035 nach Riluzol und Edaravon als drittes Arzneimittel zur Behandlung von ALS zugelassen. Darüber hinaus gibt es viele vielversprechende Therapien, die sich noch in Entwicklung befinden. Wichtige Faktoren, die es bei der Planung klinischer Studien zur Behandlung von ALS zu berücksichtigen gilt, sind: 1. geeignete und genaue Biomarker und klinische Skalen (etwa ALSFRS-R-Subscore-Analyse) zur Messung der Wirksamkeit der Behandlung, 2. Optimierung der Therapie entsprechend dem Genotyp und klinischen Status der Patientin beziehungsweise des Patienten zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Studie (Vorauswahlkriterien) und 3. Wahl einer angemessenen Beobachtungsdauer.
In der klinischen Praxis ist die frühe Diagnose von ALS einer der wichtigsten Faktoren für den Zugang zu klinischen Studien. Angesichts der Heterogenität des klinischen Bildes wäre es sinnvoll, mehrere Wirkstoffe gleichzeitig zu testen, um auf verschiedene pathophysiologische Mechanismen abzuzielen, auch wenn dieser Ansatz weniger zuverlässig wäre, um die genaue Wirksamkeit jedes einzelnen Wirkstoffs zu bestimmen. Schliesslich wäre es sinnvoll, den Einsatz klinischer Studien auf mehrere Plattformen, mehrere Arme und mehrere Phasen auszuweiten. Ebenso könnten neue Strategien für die Analyse und Durchführung klinischer Studien vorgeschlagen werden.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine schwere neurodegenerative Erkrankung, die durch eine vollständige Lähmung der Skelettmuskulatur und eine schlechte Prognose geprägt ist.
  • Sie ist die häufigste Motoneuronerkrankung bei Erwachsenen. In rund 10% der Fälle gibt es eine familiäre Häufung.
  • Zurzeit ist keine kurative Behandlung gegen ALS verfügbar. Allerdings befinden sich viele vielversprechende Therapien in der Entwicklungsphase.
PD Agustina M. Lascano, PhD Unité des maladies neuromusculaires, Service de Neurologie, Département des neurosciences cliniques, Hôpitaux Universitaires de Genève, Genève
Dre Agustina M. Lascano
Département des neurosciences cliniques
Hôpitaux Universitaires de Genève
Av. de Champel 41
CH-1206 Genève
Agustina.Lascano[at]hcuge.ch
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Verdankung
Wir danken Fr. Sarah Nano für ihre Hilfe bei der Redaktion des Artikels.
Conflict of Interest Statement
AML hat angegeben, Beratungshonorare von ADC Therapeutics und Alexion sowie Reise- und Kongresskostenzuschüsse von UCB erhalten zu haben. AMH ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie (SGKN) und seit 6/2021 deren Präsidentin. Die anderen Autorinnen haben deklariert, keine potentiellen Interessenkonflikte zu haben.
Author Contributions
Konzept, AML; Methodik, AML, ES; Visualisierung, AML, ES; Schreiben, Überprüfen, Editieren, AML, SR, AMH, AH, ES; Supervision, AML, AMH, SR. Alle Autorinnen haben das eingereichte Manuskript gelesen und sind für alle Aspekte des Werkes mitverantwortlich.

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