Seltene Differentialdiagnose einer Leberraumforderung
Akute Oberbauchschmerzen
Peer-review

Seltene Differentialdiagnose einer Leberraumforderung

Was ist Ihre Diagnose?
Ausgabe
2024/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2024.1154899351
Swiss Med Forum. 2024;24(07):88-90

Affiliations
a Innere Medizin, Kantonsspital Uri, Altdorf
b Gemeinschaftspraxis Dokterhüüs, Schattdorf

Publiziert am 14.02.2024

Fallbeschreibung

Die 73-jährige, rüstige Patientin mit bekannter arterieller Hypertonie stellte sich mit akut einsetzenden, rechtsseitigen Oberbauch- bis Flankenschmerzen von stechend-ziehendem Charakter auf dem Notfall vor. Die Schmerzen seien aus dem Nichts aufgetreten, hätten sich in Ruhe verstärkt und bei körperlicher Betätigung gebessert. Die Patientin leide seit einem Skiunfall knapp ein Jahr zuvor an chronischen Rückenschmerzen, die jedoch von anderem Charakter und nie so stark seien. Als auffällige Befunde fanden sich in der klinischen Untersuchung eine leichte Druckdolenz des rechten Oberbauchs sowie eine paravertebrale Druckdolenz im Bereich der unteren Brustwirbelsäule rechtsseitig.
Frage 1
Welche Differentialdiagnose ist am wahrscheinlichsten?
a) Gallenproblematik
b) Pleurale Schmerzen
c) Urolithiasis
d) Muskuloskelettale Problematik
e) Myokardinfarkt
Aufgrund des neuen Schmerzcharakters sowie der Druckdolenz im rechten Oberbauch erschien uns eine pleurale, myokardiale oder muskuloskelettale Ursache unwahrscheinlich. Auch eine Urolithiasis stand für uns bei der genannten klinischen Präsentation nicht im Vordergrund. Dennoch veranlassten wir einen Urinstatus zum Ausschluss einer Hämaturie, der sich unauffällig zeigte. Für uns stand differentialdiagnostisch eine Pathologie der Gallenblase oder Gallenwege im Fokus, weshalb wir eine Blutentnahme veranlassten. Laborchemisch zeigte sich eine leichte normochrome, normozytäre Anämie mit einem Hämoglobinwert von 120 g/l, ein C-reaktives Protein (CRP) von 10 mg/l, eine hypoosmolare Hyponatriämie mit einem Natrium von 129 mmol/l sowie eine Erhöhung der Gamma-Glutamyltransferase (GGT) von 235 U/l (Norm: <38 U/l) und der alkalischen Phosphatase von 352 U/l (Norm: 30–120 U/l). Somit erhärtete sich unser initialer Verdacht einer beginnenden Cholezystitis oder Choledocholithiasis und wir veranlassten eine Abdomensonographie. Neben einer reizlosen Cholezystolithiasis fand sich dabei eine circa 10 cm grosse, inhomogene, stark vaskularisierte Raumforderung des rechten Leberlappens mit sowohl zystischen als auch soliden Anteilen (Abb. 1).
Abbildung 1: Sonographie des Abdomens. Im rechten Leberlappen Nachweis einer zystisch-soliden Raumforderung.
Zur weiteren Diagnostik wurde eine Computertomographie (CT) des Abdomens durchgeführt, in der sich eine grosse, diffuse, heterogene Leberläsion im rechten Leberlappen mit circa 12,5 × 6 × 8 cm Ausdehnung sowie grösstenteils hypodensen/zystischen Anteilen, intraläsionalen Gefässabbrüchen und Gallenwegserweiterungen zeigte (Abb. 2).
Abbildung 2: Computertomogramm des Abdomens, Transversalschnitt. Diffuse, heterogene, circa 12,5 × 6 × 8 cm durchmessende Läsion im rechten Leberlappen.
Zusätzlich fanden sich mehrere fokale Milzläsionen, die radiologisch aber nicht eindeutig mit dem Leberbefund in Verbindung gebracht werden konnten. Es bestand kein weiterer Anhalt für Metastasen oder einen Primärtumor.
Frage 2
Welche Differentialdiagnose ist zum aktuellen Zeitpunkt am wahrscheinlichsten?
a) Lebermetastasen eines primär extrahepatischen Tumors
b) Cholangiokarzinom
c) Hepatozelluläres Karzinom
d) Hämangiom
e) Alveoläre Echinokokkose
Aufgrund der radiologischen Präsentation dachten wir primär an ein Cholangiokarzinom, differentialdiagnostisch an ein hepatozelluläres Karzinom, und entschieden uns daher zur ultraschallgesteuerten Feinnadelpunktion der Hauptläsion. Der histologische Befund ergab jedoch keinen Malignitätshinweis, vielmehr zeigten sich entzündliche Veränderungen.
In der erneuten Besprechung mit den Kolleginnen und Kollegen der Radiologie wurde der Verdacht auf eine sich radiologisch atypisch präsentierende alveoläre Echinokokkose (AE) geäussert. Es wurde entsprechend eine Serologie veranlasst, die mit dem Nachweis von Antikörpern gegen Echinococcus-multilocularis-18 (Em18) klar positiv ausfiel. Somit konnte die Diagnose einer aktiven AE gestellt werden.
Obwohl wir initial die Differentialdiagnose der AE nicht in Betracht gezogen hatten, wäre retrospektiv die AE die wahrscheinlichste Differentialdiagnose zum Cholangiokarzinom gewesen, dies insbesondere aufgrund des guten Allgemeinzustands der Patientin sowie der fehlenden B-Symptomatik.
Frage 3
Welches ist nun das beste therapeutische Vorgehen bei dieser Patientin?
a) Radikale (kurative) chirurgische Resektion ohne antiparasitäre Therapie
b) Albendazol für zwei Jahre unabhängig von der Resezierbarkeit
c) Radikale (kurative) chirurgische Resektion in Kombination mit medikamentöser Therapie
d) Mebendazol für drei Monate
e) Keine Therapie notwendig, solange keine weiteren Beschwerden
Unbehandelt liegt die Letalität einer alveolären Echinokokkose bei circa 90% in 10 Jahren, respektive 100% in 15 Jahren [1]. Durch die Einführung der Therapie mit Albendazol konnte die Lebenserwartung nahezu normalisiert werden. Bis vor Kurzem galt eine alleinige medikamentöse Therapie nur als parasitostatisch und nicht als parasitozid und war somit nie als kurativ anzusehen. Eine kurative Therapie ist demnach nur mit radikaler chirurgischer Resektion in Kombination mit einer Albendazol-Langzeitbehandlung möglich [2]. Neuere Daten weisen jedoch darauf hin, dass in einigen Fällen auch eine rein medikamentöse Therapie kurativ sein kann [3]. Mebendazol ist weniger effektiv als Albendazol, zudem ist der Einnahmemodus kompliziert. Es sollte somit nur in Ausnahmefällen für die medikamentöse Therapie einer AE benutzt werden [4].
Wir nahmen Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen an einem universitären Bauchzentrum auf, die den Befund trotz seiner Lage im Leberhilus als kurativ resezierbar beurteilten, und planten daher rund vier Monate nach Diagnosestellung die Operation. Bereits präoperativ wurde die Therapie mit Albendazol eingeleitet. Intraoperativ zeigte sich auch ein extrahepatischer Befall der Lymphknoten sowie des Diaphragmas. Es wurden eine En-bloc-Hemihepatektomie rechts mit Segment I rechts und Gallengangsresektion, eine Cholezystektomie und Lymphadenektomie mit Hepaticojejunostomie nach Roux-Y, zudem eine Pfortaderresektion und Anastomose sowie zusätzlich eine atypische Zwerchfellresektion rechts durchgeführt.
Frage 4
Was sind mögliche Komplikationen dieser Operation?
a) Gallenleckage
b) Hämodynamisch relevante Blutung
c) Pleuraerguss
d) Leberversagen
e) Alle oben genannten
Die wohl gefürchtetste Komplikation ist das postoperative Leberversagen mit einer Mortalität von bis zu 70%. Als Risikofaktoren hierfür werden die Grösse des resezierten Anteils sowie eine vorbestehende Funktionseinschränkung der Restleber genannt [5]. Aber auch die anderen Antworten sind mögliche Komplikationen der Leberresektion, was sich am Beispiel dieser Patientin aufzeigen lässt. Bereits wenige Tage postoperativ kam es zu einer Gallenleckage, die 12 Tage postoperativ eine Revision notwendig machte. Weitere 10 Tage später kam es bei persistierender Gallenleckage zu einer schockierenden Arrosionsblutung aus dem Stumpf der Arteria hepatica dextra mit erneuter Revisionslaparotomie. Zusätzlich erfolgte im selben Eingriff die Schienung der Gallenwege mittels «T-Drain» sowie die Einlage einer Thoraxdrainage rechts bei Pleuraerguss. Pleuraergüsse sind, ebenso wie Pneumonien, aufgrund der veränderten Atemmechanik mit 40% respektive 22% relativ häufige Komplikationen nach Leberresektion [6].
Im weiteren Verlauf besserte sich der Allgemeinzustand der Patientin stetig, jedoch stiegen die Infektparameter erneut an. Eine intraabdominelle Flüssigkeitskollektion fand sich nicht. Bei Verdacht auf Cholangitis wurde dennoch eine antibiotische Therapie notwendig. Nach gut 10-wöchiger Hospitalisation konnte die Patientin in stabilem Allgemeinzustand ins häusliche Umfeld entlassen werden. Die Therapie mit Albendazol wurde zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels noch weiter durchgeführt. Der Allgemeinzustand der Patientin hatte sich rund 15 Monate nach der Operation wieder dem Ausgangszustand angenähert. Es persistierte aber – vermutlich aufgrund von Gallengangstenosen – eine Neigung zu Cholangitiden mit bisher drei therapiebedürftigen Episoden.

Diskussion

Frage 5
Welche Aussagen zur alveolären Echinokokkose sind richtig?
a) Die Diagnose sollte mittels Punktion gesichert werden.
b) Sie kommt in der Schweiz kaum noch vor.
c) Sie erfordert lebenslange Nachsorge.
d) Eine Unterscheidung zwischen aktiver und inaktiver Erkrankung ist kaum möglich.
e) Eine medikamentöse Therapie ist bei vollständiger chirurgischer Resektion nicht notwendig.
Die AE ist mit 20–30 Neuerkrankungen pro Jahr in der Schweiz eine seltene, gerne vergessene Differentialdiagnose bei Tumoren der Leber mit zystischen Anteilen, die in ihrer Morbidität und Mortalität aber durchaus mit einem malignen Tumor vergleichbar ist [4]. Die Zahl der Neuerkrankungen hat sich in den letzten etwa 20 Jahren rund verdreifacht [4]. Eine Punktion ist zur Diagnosestellung nicht notwendig, Methode der Wahl ist die serologische Diagnosestellung, wobei mithilfe des Em2- und Em18-ELISA («Enzyme-linked Immunosorbent Assay») auch eine Differentierung zwischen aktiver und inaktiver Erkrankung sowie eine Verlaufskontrolle unter Therapie möglich sind. Hierbei korreliert der Anti-Em18-Antikörpernachweis mit der Aktivität des Parasiten. Er kann also zwischen aktiver und inaktiver Infektion unterscheiden und Em18-Antikörper können als Marker unter Therapie genutzt werden [4]. Im Falle einer disseminierten Erkrankung wird eine langfristige medikamentöse Suppressionstherapie mit Albendazol angestrebt. Bei kurativ resezierbaren Befunden ist eine komplette chirurgische Resektion mit anschliessender adjuvanter Therapie mit Albendazol über mindestens zwei Jahre die Therapie der Wahl. Auch nach Abschluss der Therapie ist eine langfristige Nachsorge mit radiologischen und serologischen Nachkontrollen notwendig, da die AE rezidivieren kann.
Zusammenfassend ist die AE eine in ihrer Häufigkeit zunehmende Erkrankung [4] mit einer erheblichen Morbidität und Mortalität, die wieder vermehrt in unser Bewusstsein rücken sollte.
Antworten
Frage 1: a. Frage 2: b. Frage 3: c. Frage 4: e. Frage 5: c.
Joëlle Brügger, dipl. Ärztin Innere Medizin, Kantonsspital Uri, Altdorf; Gemeinschaftspraxis Dokterhüüs, Schattdorf
Joëlle Brügger
Dokterhüüs AG, Hausarztpraxis
Dorfstrasse 6
CH-6467 Schattdorf
joelle.bruegger[at]dokterhüüs.ch
1 Ammann RW, Eckert J. Cestodes. Echinococcus. Gastroenterol Clin North Am. 1996;25(3):655–89.
2 Torgerson PR, Schweiger A, Deplazes P, Pohar M, Reichen J, Ammann RW, et al. Alveolar echinococcosis: from a deadly disease to a well-controlled infection. Relative survival and economic analysis in Switzerland over the last 35 years. J Hepatol. 2008;49(1):72–7.
3 Deibel A, Stocker D, Meyer Zu Schwabedissen C, Husmann L, Kronenberg PA, Grimm F, et al. Evaluation of a structured treatment discontinuation in patients with inoperable alveolar echinococcosis on long-term benzimidazole therapy: A retrospective cohort study, PLoS Negl Trop Dis. 2022;16(1):e0010146.
4 Beldi G, Müller N, Gottstein B. Die alveoläre Echinokokkose. Schweiz Med Forum. 2017;17(36):760–6.
5 Balzan S, Belghiti J, Farges O, Ogata S, Sauvanet A, Delefosse D, Durand F. The «50-50 criteria» on postoperative day 5: an accurate predictor of liver failure and death after hepatectomy. Ann Surg. 2005;242(6):824–8.
6 Nobili C, Marzano E, Oussoultzoglou E, Rosso E, Addeo P, Bachellier P, et al. Multivariate analysis of risk factors for pulmonary complications after hepatic resection. Ann Surg. 2012;255(3):540–50.
Verdankung
Die Autorinnen danken Dr. med. Lennart Sandig, Konsiliararzt der Radiologie im Kantonsspital Uri, für die radiologische Unterstützung.
Ethics Statement
Ein Informed Consent zur Publikation liegt vor.
Conflict of Interest Statement
Die Autorinnen haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.

Mit der Kommentarfunktion bieten wir Raum für einen offenen und kritischen Fachaustausch. Dieser steht allen SHW Beta Abonnentinnen und Abonnenten offen. Wir publizieren Kommentare solange sie unseren Richtlinien entsprechen.