If you hear hoofbeats, think of horses, not zebras
Chronische Bauchschmerzen beim Kind
Peer-review

If you hear hoofbeats, think of horses, not zebras

Der besondere Fall
Ausgabe
2024/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2024.1154897739
Swiss Med Forum. 2024;24(07):92-94

Affiliations
a Klinik für Viszeral- und Thoraxchirurgie, Kantonsspital Winterthur, Winterthur
b Chirurgische Klinik, GZO Spital Wetzikon, Wetzikon
c Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Kantonsspital Winterthur, Winterthur
d Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin, Kantonsspital Winterthur, Winterthur

Publiziert am 14.02.2024

Hintergrund

Etwa 10–15% aller Kinder leiden unter chronischen Bauchschmerzen, gehäuft nach dem dritten Lebensjahr. Als chronisch werden Bauchschmerzen bezeichnet, wenn sie länger als drei Monate auftreten. Mädchen sind häufiger betroffen als Knaben. Funktionelle Bauchschmerzen sind am häufigsten, in nur 5–10% der Fälle können organische Ursachen gefunden werden [1]. Eine seltene Ursache stellt ein Meckel-Divertikel dar.
Umgekehrt gehört dieses Krankheitsbild zu den klassischen Differentialdiagnosen der chronischen gastrointestinalen Blutung des Kindes und kann — falls unentdeckt — eine chronische Anämie oder gar eine Gedeihstörung triggern.

Fallbericht

Anamnese

Der 11-jährige Knabe stellte sich mit persistierenden Unterbauchschmerzen circa zwei Wochen nach auswärtiger laparoskopischer Appendektomie auf unserer Notfallstation vor. Beim Patienten bestand eine mehrjährige Anamnese mit chronischen Bauchschmerzen und Obstipation. Seit rund fünf Jahren zeichnete sich ausserdem eine Gedeihstörung ab. Deswegen waren wiederholt obere Endoskopien durchgeführt worden, zuletzt knapp vier Wochen vor der aktuellen Vorstellung bei ausgeprägter Anämie (Hämoglobin 71 g/l) und anamnestischem Verdacht auf Meläna. Die endoskopischen Abklärungen hatten allerdings keine Blutungsquelle ergeben, und die ausgeprägte hypochrome, mikrozytäre Anämie war als Eisenmangelanämie unklarer Ätiologie oder differentialdiagnostisch im Rahmen einer fremdanamnestisch eruierten familiären Thalassaemia minor, die allerdings nie abgeklärt wurde, interpretiert worden.
Bei Schmerzexazerbation im rechten Unterbauch und sonographisch typischen Zeichen für eine Appendizitis war zwei Wochen zuvor in einem externen Spital eine laparoskopische Appendektomie erfolgt. Intraoperativ und histologisch hatte sich eine leichtgradige Appendizitis gezeigt. Die Beschwerden hätten aber in Folge persistiert. Bei Vorstellung auf unserer Notfallstation wurden Fieber, Schüttelfrost oder Erbrechen verneint, jedoch sei der Stuhlgang am Vorstellungstag dunkel und übelriechend gewesen. Die Reiseanamnese war unauffällig. Die Fixmedikation bestand aus einer oralen Eisensubstitution und einem Laxativum. In der Familienanamnese fand sich eine Schwester mit Zöliakie, die beim Patienten serologisch und histologisch gesucht und ausgeschlossen worden war. Allergien waren nicht bekannt, Impfungen waren anamnestisch nach dem Schweizerischen Impfplan erfolgt.

Status

Es zeigte sich ein kardiopulmonal stabiler und afebriler Knabe in reduziertem Allgemeinzustand (Gewicht: 24,9 kg [<3. Perzentile], Grösse: 130 cm [<3. Perzentile], Body Mass Index: 14,7 kg/m2 [3.–10. Perzentile], Körperoberfläche [KOF]: 0,95 m2). Die abdominelle Untersuchung ergab eine diffuse Abwehrspannung über allen Quadranten und eine Druckdolenz im rechten Hemiabdomen ohne Loslassschmerz, die Darmgeräusche waren rege über allen Quadranten. Zudem zeigte sich ein auffällig blasses Hautkolorit bei reizlosen Narbenverhältnissen.

Befunde

Laborchemisch fand sich eine hypochrome, mikrozytäre Anämie (Hämoglobin 69 g/l, Erythrozytenzahl 4,0 T/l, «mean corpuscular volume» [MCV] 62 fl, «mean corpuscular haemoglobin concentration» [MCHC] 281 g/l, Retikulozytenzahl 97 G/l, Ferritin 2 µg/l) bei normwertigen Entzündungsparametern. In der Sonographie des Abdomens präsentierten sich eine langstreckig wandverdickte Dünndarmschlinge mit reaktiver Lymphadenopathie und eine unklare, flüssigkeitsgefüllte Struktur mit Wandschichtung, die der Dünndarmschlinge direkt anlag, bei nur wenig freier Flüssigkeit. Bei sonographischem Verdacht auf ein Meckel-Divertikel wurde eine Meckel-Divertikel-Szintigraphie durchgeführt, die den Verdacht bestätigte (Abb. 1).
Abbildung 1: Meckel-Divertikel-Szintigraphie; Technetium-99m-Pertechnetat (99m TcO 4 - ), 68 MBq. Magenschleimhaut-tragender Meckel-Divertikel in typischer Lokalisation im rechten Unterbauch. Physiologische Anreicherung im Magen und Ausscheidung über die Blase.

Verlauf

Da wir postulierten, dass ektope Magenschleimhaut im und allenfalls gegenüber dem Meckel-Divertikel als Ursache für die chronische Eisenmangelanämie des Patienten verantwortlich war, führten wir eine laparoskopisch-assistierte Ileumsegmentresektion durch. Intraoperativ zeigten sich wenig seröser Aszites im kleinen Becken und die Adhäsion einer Dünndarmschlinge an die Absetzungsstelle des Appendix. In der systematischen Dünndarmrevision präsentierte sich 70 cm proximal der Bauhin-Klappe das in der Bildgebung beschriebene Meckel-Divertikel. Über einen klassischen Wechselschnitt wurde das Divertikel-tragende Ileumsegment vor die Bauchdecke luxiert und über eine Länge von 10 cm reseziert. Anschliessend erfolgten eine End-zu-End-Ileo-Ileostomie in klassischer Davos-Technik (extramukosale fortlaufende Naht mit Poly-p-dioxanon [PDS] 5-0 unter Wendung der Anastomose) und der Verschluss der Mesolücke. Zu erwähnen ist, dass der Patient mit tiefem Ausgangshämoglobin (65 g/l) trotz minimalem Blutverlust wahrscheinlich verdünnungsbedingt intraoperativ auf ein Hämoglobin von 42 g/l abfiel, weswegen von anästhesiologischer Seite die Transfusion eines Erythrozytenkonzentrats erfolgte.
Postoperativ zeigte sich ein komplikationsloser Verlauf mit kompletter Schmerzregredienz und gutem Ingangkommen der Magen-Darm-Passage, sodass der Patient am vierten postoperativen Tag nach Hause entlassen werden konnte. Die chronische Anämie wurde am ehesten als Folge des rezidivierenden Blutverlusts im Rahmen des Meckel-Divertikels mit sekundärem Eisenmangel interpretiert, und die orale Eisensubstitution wurde fortgeführt. Eine Thalassämie-Abklärung wurde nicht durchgeführt und nur für den Fall geplant, dass sich die Anämie im Verlauf nicht bessern würde.
In der pathologischen Aufarbeitung präsentierte sich ein 3,5 cm messendes Meckel-Divertikel mit ausgeprägter heterotoper Magenschleimhaut vom Korpus-Typ und akuter ulzero-phlegmonöser Divertikulitis. Nebenbefundlich zeigte sich eine perifokale, chronisch-granulomatöse Entzündung, weshalb differentialdiagnostisch an eine abdominelle Tuberkulose gedacht wurde, die in den weiteren Abklärungen jedoch nicht bestätigt werden konnte.
Drei Monate postoperativ präsentierte sich der Knabe in einem guten Allgemein- und Ernährungszustand sowie mit einer Gewichtszunahme um 1,5 kg (Gewicht 26,5 kg [3. Perzentile], Grösse 137,5 cm [3. Perzentile]). Die rezidivierenden, abdominalen Beschwerden waren seit der Operation nie mehr aufgetreten, und die Operationszugänge waren reizlos verheilt (Abb. 2).
Abbildung 2: Klinischer Befund zehn Tage postoperativ nach laparoskopisch-assistierter Ileum-Segmentresektion. Ein schriftlicher Informed Consent zur Publikation liegt vor.
Auch zeigte sich die chronische Anämie komplett regredient, sodass die orale Eisensubstitution durch die Kinderärztin gestoppt werden konnte.

Diskussion

Das Meckel-Divertikel hat eine Prävalenz von 2% und ist somit die häufigste kongenitale Anomalie des Gastrointestinaltrakts. Komplikationen treten in 4% der Fälle in Form von Blutungen, Entzündungen oder Obstruktionen auf. Beim Meckel-Divertikel handelt es sich um ein echtes Divertikel, das durch die unvollständige Obliteration des Ductus omphaloentericus entsteht und nach dem deutschen Anatomen Johann Friedrich Meckel benannt ist. Lokalisiert ist es meist in den 100 cm vor dem ileozökalen Übergang [2]. Etwa 50% der Meckel-Divertikel enthalten heterotope Mukosa, bei der es sich am häufigsten um Magenschleimhaut oder Pankreasgewebe handelt [2, 3].
Die Symptome des Meckel-Divertikels sind unspezifisch und identisch mit denen der häufigeren abdominellen Pathologien wie der Appendizitis, sodass die Diagnosestellung schwierig ist. Die Blutung stellt, wie auch in unserem Fall, das häufigste Symptom bei Kindern dar, wobei ein Blutabgang ab ano häufig mit Bauchkrämpfen assoziiert ist [2–4].
Die im Fall beschriebene chronische Anämie ist nicht die klassische Präsentation eines symptomatischen Meckel-Divertikels. Häufiger ist ein akuter Hämoglobinabfall bei aktiver Blutung [2, 3]. Im beschriebenen Fall ist es wahrscheinlich zu rezidivierenden Blutungen gekommen, was zum chronischen Eisenmangel geführt hat. Dies wurde auch als ursächlich für die Wachstumsstagnation interpretiert.
Den Goldstandard in der Bildgebung stellt die Meckel-Divertikel-Szintigraphie mit Technetium-99m-Pertechnetat (99mTcO4-) dar [2, 5]. Die anderen bildgebenden Verfahren ergeben häufig unspezifische Befunde wie perifokale Imbibierung oder verdickte tubuläre Strukturen, sodass — wie im beschriebenen Fall — der Verdacht auf ein Meckel-Divertikel gestellt wird.
Fast alle Meckel-Divertikel bei Kindern mit einer Blutung enthalten ektope Magenschleimhaut [6]. 99mTcO4- wird von Zellen der Magenmukosa aufgenommen und von Muzin-produzierenden Zellen in das Lumen ausgeschieden. Die Aufnahme findet über den Natrium-Iodid-Symporter statt, einem transmembranösen Transport-System, durch das neben Iodid auch strukturell ähnliche Anionen wie 99mTcO4- aufgenommen werden. Es findet sich in der Schilddrüse, unter anderem aber auch in der Magenschleimhaut und in den Speicheldrüsen [7]. Richtig und in den geeigneten klinischen Situationen durchgeführt, hat die Meckel-Divertikel-Szintigraphie eine Sensitivität von 85% und eine Spezifizität von 95%. Dynamische Aufnahmen des ganzen Abdomens vom Zwerchfell (inklusive Magen) bis zur Harnblase werden nach intravenöser Applikation des Radiopharmakons über 30 Minuten erfasst. Zusätzliche statische Aufnahmen können nach 30 und 60 Minuten akquiriert werden. Ergänzend kann zur genaueren Lokalisation eine Einzelphotonen-Emissionscomputertomographie (SPECT/CT) durchgeführt werden. Ektope Magenmukosa zeigt sich durch umschriebene Radiopharmakon-Aufnahme zum gleichen Zeitpunkt, wie sie durch die normale Magenschleimhaut erfolgt [8].
Bei unauffälliger Szintigraphie, Koloskopie und Bildgebung mittels Magnetresonanztomographie (MRT) sollte bei persistierenden Symptomen eine diagnostische Laparoskopie zum Ausschluss eines Meckel-Divertikels durchgeführt werden, da diese die höchste Sensitivität und Spezifität bezüglich der Diagnose eines Meckel-Divertikels aufweist [5].
Die Standardtherapie eines symptomatischen Meckel-Divertikels ist die (laparoskopische) Resektion des Meckel-Divertikels. Bei kleinem Meckel-Divertikel ist eine Segmentresektion oder Wedge-Resektion empfohlen, da hier die ektope Magenmukosa oft an der Basis zu liegen kommt. Ebenso ist bei einer Blutungsproblematik eine Segmentresektion empfohlen, da Ulzera der gegenüberliegenden Ileumschleimhaut mitreseziert werden [4]. Bei grösserem und insbesondere entzündetem Meckel-Divertikel kann auch eine Divertikulektomie mittels Stapler an der Basis evaluiert werden [2, 5]. Über die routinemässige Resektion von asymptomatischen Meckel-Divertikeln gibt es keinen Konsens und nur Daten aus vorwiegend älteren Studien mit offenem operativen Vorgehen [5]. Obwohl die zusätzliche Morbidität durch eine Gelegenheitsdivertikulektomie im Rahmen einer Laparoskopie gering ist, muss sie sorgfältig abgewogen werden, solange ein Meckel-Divertikel asymptomatisch ist.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Der Goldstandard zur Diagnostik des Meckel-Divertikels ist die Meckel-Divertikel-Szintigraphie.
  • Bei unauffälligen Abklärungsbefunden sollte bei persistierenden Symptomen eine diagnostische Laparoskopie zum Ausschluss eines Meckel-Divertikels durchgeführt werden.
  • Bei unklaren abdominellen Beschwerden in Kombination mit Blutungen ab ano und/oder Anämie muss beim Kind differentialdiagnostisch an ein Meckel-Divertikel gedacht werden.
  • Bei Kindern gehört die systematische Durchsicht des Ileums bei der laparoskopischen Appendektomie zum Ausschluss eines Meckel-Divertikels dazu.
  • Bei blutendem Meckel-Divertikel empfiehlt sich eine Segmentresektion. Diese kann problemlos laparoskopisch-assistiert durchgeführt werden.
Dr. med. Tobias Müller Chirurgische Klinik, GZO Spital Wetzikon, Wetzikon
Dr. med. Tobias Müller
Chirurgische Klinik
GZO Spital Wetzikon
Spitalstrasse 66
CH-8620 Wetzikon
tobias.mueller[at]gzo.ch
1 Reust CE, Williams A. Recurrent abdominal pain in children. Am Fam Physician. 2018;97(12):785–93.
2 Hansen CC, Søreide K. Systematic review of epidemiology, presentation, and management of Meckel’s diverticulum in the 21st century. Medicine (Baltimore). 2018;97(35):e12154.
3 Menezes M, Tareen F, Saeed A, Khan N, Puri P. Symptomatic Meckel’s diverticulum in children: a 16-year review. Pediatr Surg Int. 2008;24(5):575–7.
4 Chan KW, Lee KH, Mou JW, Cheung ST, Tam YH. Laparoscopic management of complicated Meckel’s diverticulum in children: a 10-year review. Surg Endosc. 2008;22(6):1509–12.
5 Fusco JC, Achey MA, Upperman JS. Meckel’s diverticulum: evaluation and management. Semin Pediatr Surg. 2022;31(1):151142.
6 Amoury RA, Snyder CL. Meckel’s diverticulum. In: O’Neill JA, Rowe MI, Grosfeld JL, Fonkalsrud EW, Coran AG, Hg. Pediatric Surgery. 5. Aufl. St. Louis, MO: Mosby; 1998. S. 1173–84.
7 Zuckier LS, Dohan O, Li Y, Chang CJ, Carrasco N, Dadachova E. Kinetics of perrhenate uptake and comparative biodistribution of perrhenate, pertechnetate, and iodide by NaI symporter-expressing tissues in vivo. J Nucl Med. 2004;45(3):500–7.
8 Spottswood SE, Pfluger T, Bartold SP, Brandon D, Burchell N, Delbeke D, et al. SNMMI and EANM practice guideline for meckel diverticulum scintigraphy 2.0. J Nucl Med Technol. 2014;42(3):163–9.
Verdankung
Die Autorinnen und Autoren danken Herrn PD Dr. med. Bernd Klaeser, Chefarzt der Nuklearmedizin des Kantonsspitals Winterthur, für die radiologischen Aufnahmen.
Ethics Statement
Ein schriftlicher Informed Consent zur Publikation liegt vor.
Conflict of Interest Statement
Die Autorinnen und Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.

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