In dieser Ausgabe des Swiss Medical Forum finden Sie in der Rubrik «Der besondere Fall» eine Vignette [1], deren Konstellation Ihnen als Einzelfall erscheinen mag; deshalb ja diese Rubrik.
Bei näherem Hinsehen gibt sie jedoch den Blick auf etwas frei, das eben kein so rares Problem ist und das uns im klinischen Alltag oft ratlos und frustriert zurücklässt.
Wir lesen dort von einer jungen Patientin mit fortgeschrittener Leberzirrhose, schwerer Niereninsuffizienz und einer chronischen Schmerzsymptomatik. Dessen nicht genug, besteht – wohl allem vorangestellt – eine Abhängigkeit von Alkohol und Opioiden sowie ein Konsum von Kokain und Benzodiazepinen.
Die ersten drei Probleme allein qualifizieren heutzutage in aller Regel bereits für den Beizug von Kolleginnen und Kollegen dreier Fachdisziplinen: der Gastroenterologie, der Nephrologie und der Schmerzmedizin. Es mag also logisch erscheinen, dass für die Abhängigkeitserkrankungen eine Psychiaterin oder ein Psychiater vonnöten ist. Tatsächlich ist der Zugang zu Konsiliarpsychiaterinnen und -psychiatern – auch dank der Verankerung der Notwendigkeit der Psychiatrie im Weiterbildungsprogramm für Allgemeine Innere Medizin – in den letzten Jahren deutlich niederschwelliger, ihr Einsatz häufiger geworden – so scheint es mir zumindest.
Leider wird dabei oft ausser Acht gelassen, dass die Psychiatrie ein sehr grosses Fach ist, innerhalb dessen es viele verschiedene Kompetenzen gibt, die sich ähnlich zueinander verhalten wie Kardiologie und Gastroenterologie. Bezüglich der Abhängigkeitserkrankungen wurde diesem Umstand durch die Schaffung des Schwerpunkttitels «Psychiatrie und Psychotherapie der Abhängigkeitserkrankungen» Rechnung getragen – rund 130 Titeltragende umfasst die Schweizer Ärzteschaft aktuell, die meisten tätig in psychiatrischen Kliniken oder Spezialambulatorien. Man muss kein Mathematiker sein, um zu erkennen, dass die Wahrscheinlichkeit, eine solche Spezialistin oder einen solchen Spezialisten an der Hand zu haben, wenn Patientinnen und Patienten wie die Protagonistin der vorliegenden Vignette in einem mittelgrossen Spital auf der allgemein-internistischen Abteilung auftauchen, gering ist.
Wie gehen wir also damit um, dass wir für Leber, Niere und Schmerzen Spezialistinnen und Spezialisten auffahren können, jedoch für die – meist bereits ein halbes Leben lang bestehende und dieses Leben oft dominierende – Abhängigkeitserkrankung nur «mal die Anästhesistin oder den Anästhesisten über die Opioide schauen lassen» oder ein psychiatrisches Konsil anmelden können, dessen Ergebnis in vielen Fällen sein wird, dass der Konsum psychoaktiver Substanzen geordnet oder gar gestoppt werden muss, bevor eine psychotherapeutische Behandlung möglich ist, und wir doch genau wissen, dass dies nicht oder nicht in brauchbarer Frist passieren wird?
Im besten Falle läuft es wie sonst auch: jede Spezialistin, jeder Spezialist gibt seine Empfehlung ab (und genau das soll ja auch so sein!) und am Ende gibt es hoffentlich eine engagierte Kollegin oder einen engagierten Kollegen aus dem Bereich der Inneren Medizin, der Grundversorgung oder Psychiatrie, die oder der die Puzzleteile zusammensetzt. Im Falle von Patientinnen und Patienten mit schweren Abhängigkeitserkrankungen wollen sich die Puzzleteile nur leider oft eben nicht zusammenfügen lassen. Entweder weil die Betroffenen durch das krankheitsinerte Chaos, das sie anzurichten vermögen und das dann häufig als «Malcompliance» oder «mangelnde Adhärenz» betitelt wird, die Therapievorschläge zu torpedieren scheinen und damit nicht selten auch geduldige Kolleginnen und Kollegen vergraulen oder weil wir uns als Behandelnde in medizinische Grauzonen begeben müssten; in Gebiete, in denen wir uns nicht sicher fühlen, weil uns das entscheidende Stück Spezialwissen fehlt, weil wir in den notwendigen Verhandlungspraktiken nicht geübt sind, weil uns die Routine in der Deklination moralischer und ethischer Prinzipien im Zusammenhang mit Suchterkrankungen fehlt.
Die Abhängigkeitserkrankung bleibt also oft stiefmütterlich behandelt; der Platz, den sie im Leben der Betroffenen einnimmt, wird insbesondere im stationären medizinischen Setting oft grotesk ins Gegenteil verkehrt.
Die Patientin aus der Vignette hatte Glück. Durch ihre Behandlung in einem Zentrum für Suchtmedizin nahmen sich ihrer ärztliche Kolleginnen und Kollegen an, die genau darauf spezialisiert sind: die Empfehlungen anderer Spezialistinnen und Spezialisten an die Lebensrealität von Betroffenen mit schweren Abhängigkeitserkrankungen anzupassen. Sie haben das nötige Wissen und die Erfahrung, um mit den Patientinnen und Patienten medizinisch Notwendiges in das schwer Veränderbare zu integrieren und eine individuelle, mitunter verstörend bescheiden erscheinende Definition von Lebensqualität zu erarbeiten. Daran ausgerichtet treffen sie bisweilen mutige Entscheidungen und gehen das Wagnis ein, der oder dem als so unzuverlässig berühmten «Suchterkrankten» Vertrauen zu schenken.
Die Schweizerische Gesellschaft für Suchtmedizin (SSAM) bietet seit 2018 den Fähigkeitsausweis Abhängigkeitserkrankungen an, der potentiell Ärztinnen und Ärzten aller an Patientinnen und Patienten tätigen Fachrichtungen offen steht. Damit soll unter anderem der geschilderten Versorgungslücke Rechnung getragen und Expertise auf dem Gebiet nachvollziehbar werden.
In Anbetracht der Tatsache, dass Abhängigkeitserkrankungen in all ihren Facetten und Schweregraden häufige Erkrankungen mit weitreichender Bedeutung für das Individuum, aber auch für sein Umfeld und die Gesellschaft einschliesslich der ökonomischen Dimension sind, ist es unabdingbar, diesen Erkrankungen in jedem medizinischen Setting jene Aufmerksamkeit und Expertise zukommen zu lassen, derer sie bedürfen, um eine respektvolle und nachhaltige Medizin zu praktizieren.
Erfreulicherweise muss dies nicht allein auf den Rücken der Allgemeininternistinnen und -internisten ausgetragen werden, auch wenn sie – wie so häufig – die Schlüsselfiguren beim Hinsehen und Erkennen-Wollen bleiben. Nein, wie für andere spezielle Fragestellungen auch, dürfen sie sich Hilfe holen bei Kolleginnen und Kollegen, die auf diese Problemlagen spezialisiert sind – denn es gibt sie (gemeint sind Psychiaterinnen und Psychiater mit Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen und Inhabende des Fähigkeitsausweises Abhängigkeitserkrankungen)! Spätestens wenn es mühsam wird, gehört also die Suchtmedizinerin oder der Suchtmediziner mit ins Boot.
Die Autorin hat deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. Franziska Saissi
Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Selnaustrasse 9
CH-8001 Zürich
franziska.saissi[at]pukzh.ch
1 Kälin M, Bruggmann P. Analgesie und Opioidagonistentherapie bei schwerer Leber- und Niereninsuffizienz. Swiss Med Forum. 2023;23(45):1418–1421.
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