Analgesie und Opioidagonistentherapie bei schwerer Leber- und Niereninsuffizienz
Herausfordernde Schmerzeinstellung
Peer-review

Analgesie und Opioidagonistentherapie bei schwerer Leber- und Niereninsuffizienz

Der besondere Fall
Ausgabe
2023/45
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.1137126698
Swiss Med Forum. 2023;23(45):1418-1421

Affiliations
Arud, Zentrum für Suchtmedizin, Zürich

Publiziert am 08.11.2023

Hintergrund

Die Schmerzeinstellung von Patientinnen und Patienten, die unter einer Opioidagonistentherapie (OAT) stehen, ist eine Herausforderung, gerade wenn es um eine Opioidanalgesie geht. Nicht selten leiden diese Personen zusätzlich an einer schweren Leber- und Niereninsuffizienz, was die Auswahl der geeigneten Substanz, der Dosierung und des Verabreichungsmodus zusätzlich erschwert. Unsicherheiten vonseiten der Behandelnden führen eher zu einer ungenügenden Analgesie als zu einer Überdosierung, was wiederum im Sinne einer Selbstmedikation zu einem Beikonsum nicht verschriebener Substanzen und weiteren damit verbundenen Komplikationen führen kann.

Fallbericht

Anamnese

Wir beschreiben den Fall einer 43-jährigen Frau mit einer äthyltoxischen Leberzirrhose Child B und einer chronischen Niereninsuffizienz KDIGO-(«Kidney Disease: Improving Global Outcomes»-)Stadium G5 A3.
Die Ursache der schweren Niereninsuffizienz wird als kombiniert interpretiert bei Status nach multiplen akuten Niereninsuffizienzepisoden sowie bei einem chronischen hepatorenalen Syndrom.
Aufgrund eines therapierefraktären Aszites wurde 2018 ein intrahepatischer portosystemischer Shunt gelegt.
Der langjährige Alkoholüberkonsum wurde vor mehreren Jahren sistiert. Eine Lebertransplantation wird aufgrund eines noch nicht ausreichend schlechten MELD-(«Model for End-stage Liver Disease»-)Scores und eines nicht vollständig sistierten Beikonsums von diversen Substanzen aktuell abgelehnt.
Neben der ehemaligen Alkoholabhängigkeit bestand auch eine langjährige Opioidabhängigkeit, die in der Vergangenheit mit Methadon und retardiertem Morphin behandelt wurde. Im Verlauf der Erkrankung sistierte die Patientin auf Eigeninitiative die OAT aufgrund der zunehmenden Verschlechterung der Leber- und Nierenfunktion mit wiederholten Spitalaufenthalten. Eine Abstinenz konnte über mehrere Jahre eingehalten werden.
Neu entwickelte Hüftkopfnekrosen beidseits führten zu einer progredienten Schmerzsymptomatik beidseits. Aufgrund der Multimorbidität wurde von orthopädischer Seite eine Kontraindikation gestellt für eine Implantation von Prothesen. Es kam in der Folge wegen der Schmerzproblematik im Sinne einer Selbstmedikation zunehmend zum Konsum von nicht verschriebenen Substanzen wie Heroin, Benzodiazepinen und Kokain.
Metamizol zeigte keine ausreichende analgetische Wirkung und andere Substanzklassen ausser der Opioide kamen wegen der Leber-und Niereninsuffizienz nicht infrage.

Therapie

In einem externen stationären Setting wurde erneut eine OAT mit retardiertem Morphin begonnen mit dem Ziel, einerseits die Schmerzen zu behandeln, aber auch den Beikonsum nicht verschriebener Substanzen zu stoppen. Es stellte sich jedoch keine ausreichende analgetische Wirkung mehr ein und es kam aufgrund der Niereninsuffizienz intermittierend zur Akkumulierung mit Bewusstseinstrübungen.
Eine kombinierte Analgesie und OAT (off-label) mit Hydromorphon zeigte sich initial bezüglich der Schmerzen und des Beikonsums als erfolgreich. Im Verlauf kam es jedoch zunehmend zu erneutem Gebrauch von nicht verschriebenem Heroin, das die Patientin als einzig wirksam für ihre Hüftschmerzen erlebte.
Daher und auch wegen der wiederholten akuten Verschlechterungen des hepatorenalen Syndromes mit Dialysepflicht und schwerer hepatischer Enzephalopathie, die möglicherweise durch die unkontrollierte Selbstmedikation mit diversen nicht verschriebenen Substanzen ausgelöst wurde, entschieden wir uns für eine OAT mit Diacetylmorphin (DAM, medizinisches Heroin).

Verlauf

Seit der Therapie mit DAM konnte der Nebenkonsum von nicht verschriebenen Substanzen (Gassenheroin, Benzodiazepine, Kokain) komplett sistiert werden. Zu einer notfallmässigen Spitaleinweisung kam es bis anhin nicht mehr.
Eine Akkumulation des DAM und dessen Metaboliten ist mit der gewählten Dosis von maximal 600 mg/Tag trotz zunehmender Verschlechterung der Nierenretentionsparameter bislang nicht eingetreten. Die Patientin wird diesbezüglich engmaschig überwacht.

Diskussion

Patientinnen und Patienten unter OAT werden häufig nicht ausreichend mit Opioidanalgetika versorgt, da von der Verschreiberseite bei fehlendem Vertrauensverhältnis oft der Verdacht eines Missbrauches und somit vorgetäuschter Schmerzen ausgegangen wird oder die Angst einer Überdosierung durch die erforderte hohe Dosierung besteht. Dies führt im Allgemeinen zu einer analgetischen Unterversorgung dieser Personen. Durch die schlechten Erfahrungen mit inadäquater Analgesie vermeiden somit solche Patientinnen und Patienten eher notwendige operative Eingriffe [1].
In dieser Fallbesprechung fokussieren wir uns auf die Schmerztherapie mit Opioiden. Einerseits, da sich bei der erwähnten Patientin die zur Verfügung stehenden Nichtopioidanalgetika keine Wirkung zeigten, und andererseits auch, da eine Besprechung aller Analgetika bei Leber- und Niereninsuffizienz den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Trotzdem möchten wir betonen, dass bei der Analgetikawahl auch bei Patientinnen und Patienten mit einer OAT das Stufentherapieschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (Abb. 1) angewendet werden soll [2]. Bezüglich der Anwendung von Opioiden bei einer Leber- und Niereninsuffizienz gehen wir vorwiegend auf die Morphinderivate ein.
Abbildung 1: WHO-Stufentherapieschema zur Behandlung von Schmerzen.
NSAR: nichtsteroidale Antirheumatika; WHO: Weltgesundheitsorganisation.
Es gibt in der Literatur keine wissenschaftlich fundierten Empfehlungen bezüglich der Wahl des entsprechenden Opioides zur Analgesie bei Patientinnen und Patienten unter einer OAT. Aus der Praxis wird als Erstes empfohlen, die Dosis und Einnahmefrequenz des Opioids, das bereits als OAT verabreicht wird, zu erhöhen. Ist die Analgesie immer noch unzureichend, kann zusätzlich ein weiteres Opioid je nach den individuell vorliegenden Kontraindikationen eingesetzt werden. Der Einbezug der Patientinnen und Patienten bei der Wahl des Opioides, der Dosis und der Einnahmefrequenz ist in dieser Konstellation durchaus hilfreich, da sie es gewohnt sind, offen über ihren Opioidbedarf zu sprechen. Ebenso sollte die Opioid-verschreibende Arztperson miteinbezogen werden.
Es muss beachtet werden, dass es unter einer Langzeittherapie mit Opioiden nicht nur hinsichtlich der Atemdepression, sondern auch der analgetischen Wirkung zu einer Toleranzentwicklung kommt. Die Entwicklung einer Hyperalgesie unter langjähriger OAT erschwert die Schmerzeinstellung zusätzlich. Durch eine Kreuztoleranzentwicklung unter den verschiedenen Opioiden sind für eine ausreichende analgetische Wirkung eine deutlich höhere Dosierung und eine hochfrequentere Einnahme notwendig als bei reiner suchtmedizinischer Indikation. Die Toleranzentwicklung bezüglich der Atem- und zentralnervösen Suppression wird rasch erreicht und ermöglicht somit auch eine zügige Aufdosierung ohne Intoxikationsgefahr [1].
Die meistverwendeten Opioide in der Schweiz sind die Morphinderivate, die auch in unterschiedlicher Applikationsart und Wirkdauer zur Verfügung stehen. Morphin wird durch Glucuronidierung zu Morphin-6-Glucuronoid und Morphin-3-Glucuronoid abgebaut und vorwiegend über die Nieren ausgeschieden. Die Leber ist die Hautbeteiligte bei der Glucuronidierung von Morphin. Es konnte jedoch nachgewiesen werden, dass der Morphinmetabolismus bei Personen mit schwerer Leberinsuffizienz nicht beeinflusst wird. Es wird davon ausgegangen, dass die Glucuronidierung durch andere Organe übernommen wird. Die Niere ist somit vorwiegend an der Ausscheidung von Morphin und Morphin-Glucuronoiden beteiligt. Jedoch wurden relevante Plasma- und Liquor-Konzentrationsunterschiede nur bei schweren Niereninsuffizienzen beobachtet [3.]
Bei einer schweren Leberinsuffizienz müssen bezüglich der Opioide folgende Punkte beachtet werden: Beim Einsatz von Medikamenten mit hohem First-Pass-Effekt, also einem Abbau während der Passage durch die Leber, muss bei einer schweren Leberinsuffizienz mit portosystemischem Shunt mit einer Zunahme der Bioverfügbarkeit und dadurch verminderter hepatischer Clearance gerechnet werden. Bei topischer, bukkaler, rektaler, nasaler, inhalativer oder intravenöser/-muskulärer Anwendung sowie bei Substanzen mit einer hohen Bioverfügbarkeit ist nur die verminderte hepatische Clearance entscheidend. Einen hohen First-Pass-Effekt haben Buprenorphin, Hypdromorphon, Fentanyl, Morphin, Naloxon und Tapentadol. Methadon, Oxycodon und Tramadol haben eine hohe Bioverfügbarkeit [4].
Bei Patientinnen und Patienten wie in unserem Fall muss somit mit einer Akkumulierung der Morphinderivate gerechnet werden. Falls keine andere Substanz infrage kommt, sollte die Titrierung in einem eng kontrollierten Setting stattfinden. In Anbetracht des Risikos eines Mischkonsums bei nicht gut eingestellten Schmerzen kann die vorsichtige Anwendung von Morphinderivaten bei einer schweren Niereninsuffizienz in enger Absprache mit der zu behandelnden Person trotzdem Sinn ergeben.
Bei der Patientin in unserem Fallbeispiel konnte nur mit DAM eine ausreichende Analgesie erreicht werden. Dies erklären wir uns einerseits durch den pharmakokinetisch bedingten ausgeprägten Wirkungspeak, der bei mehrmals täglicher Anwendung zu einer zusätzlichen Verstärkung der erlebten analgetischen Wirkung beiträgt, aber auch durch die optimale, bedarfsgerechte Einstellung der OAT bei einer Patientin, die zur suchtdynamischen Stabilisierung schnell anflutender Opioide bedarf. Um in dieser Situation die zur Wahl des optimalen Opioidagonisten notwendigen Informationen zu erhalten, musste zuerst ein Vertrauensverhältnis mit der Patientin aufgebaut werden, um eine genaue Sucht- und Konsumanamnese erheben zu können. Über längere Zeit verheimlichte die Patientin aufgrund von Scham diverse Rückfälle mit nicht verschriebenem Heroin, Midazolam und Kokain von der Gasse.
DAM ist ein halbsynthetisches Morphinderivat und ein starkes Opioidanalgetikum. In der Schweiz wird es vorwiegend zur Therapie der Opioidabhängigkeit bei fehlendem Ansprechen auf langwirksame Agonisten wie Methadon, Buprenorphin oder retardiertes Morphin angewendet. DAM wird als psychopharmakologisch inaktive Prodrug vorwiegend in den peripheren Geweben und im Blutkreislauf durch Esterasen und spontane Hydrolyse zu 6-Monoacetylmorphin metabolisiert. 6-Monoacetylmorphin ist im Vergleich zu Morphin sehr lipophil, passiert somit schneller die Blut-Hirn-Schranke, und hat eine sehr hohe Rezeptoraffinität und wird somit als verantwortlicher Metabolit der spezifischen akuten Heroinwirkung (Flash) gesehen. Der weitere Abbau zu Morphin geschieht relativ schnell [3].
Tabelle 1 bietet eine Synopsis der Empfehlungen für OAT bei Opioidabhängigkeits-Syndrom 2020 der Swiss Society of Addiction Medicine (SSAM) in gekürzter Version [2].
Tabelle 1: Synopsis der Empfehlungen für Opioidagonistentherapie (OAT) bei Opioidabhängigkeits-Syndrom 2020 der «Swiss Society of Addiction Medicine» (gekürzte Version, SSAM) [2].
© SSAM, gekürzte Version mit freundlicher Genehmigung.

Zusammenfassung

Anhand dieses Fallbeispiels möchten wir zeigen, dass es nicht einen einzigen richtigen Weg gibt bei der Auswahl eines Opioidanalgetikums für Patientinnen und Patienten, die bereits unter einer OAT stehen. Neben dem medizinischen Wissen mit Beachtung von Leber- und Nierenfunktion, Nebenerkrankungen, Medikamenteninteraktionen etc. müssen auch die Erfahrungen der Patientinnen und Patienten eingebunden werden zwecks Ausarbeitung einer individuellen Therapie. Wichtig ist der Beziehungsaufbau mit Vertrauensbildung, um eine ehrliche Anamnese erheben zu können, da der Nebenkonsum stets mit einer grossen Scham behaftet ist. Dies ist nur möglich, wenn das Behandlungssystem auf einer akzeptierenden Haltung basiert, sprich, wenn Beikonsum nicht sanktioniert, sondern therapeutisch aufgegriffen wird.
Eine enge Zusammenarbeit mit den anderen betreuenden Instanzen wie auch den Fachkolleginnen und Kollegen der Suchtmedizin, dem Spitexpersonal, den Betreuenden der Wohnintegrationen und den zuständigen Sozialarbeitenden ist ebenfalls ein wichtiger Faktor für die Schaffung eines stabilen Umfeldes.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Personen unter Opioidagonistentherapie (OAT) werden häufig nicht ausreichend mit Opioidanalgetika versorgt. Ein Beikonsum kann hierfür hinweisend sein.
  • Zur Analgesie bei Personen unter OAT soll das Stufentherapieschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eingehalten werden.
  • Bei fehlendem Ansprechen können primär Dosis und Einnahmefrequenz des bereits zur OAT installierten Opioids erhöht werden. Bei insuffizienter Wirkung soll zusätzlich ein weiteres Opioid eingesetzt werden.
  • Durch die Toleranzentwicklung und die kürzere Halbwertszeit der analgetischen Wirkung der Opioide sind eine hochfrequentere Einnahme und eine höhere Dosierung als in der OAT notwendig.
  • Zur Akkumulierung von Morphinderivaten kommt es meistens erst bei schwerer Niereninsuffizienz. Die Leber spielt hier beim Abbau eine geringere Rolle.
  • Eine engmaschig kontrollierte Eintitrierung der Opioide mit einer offenen vertrauensvollen Beziehung zwischen behandelter und behandelnder Person ist notwendig für eine möglichst gute, nebenwirkungsarme Schmerzeinstellung.
  • Aufgrund der Nebenerkrankungen und unterschiedlichen Dynamik des Suchtverhaltens müssen individuelle Lösungen gesucht werden. Die Zusammenarbeit mit den OAT-verschreibenden Ärztinnen und Ärzten ist unerlässlich.
Mirjam Kälin, dipl. Ärztin Arud, Zentrum für Suchtmedizin, Zürich
Die Autorin und der Autor haben deklariert, deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Mirjam Kälin
Arud
Zentrum für Suchtmedizin
Innere Medizin
Schützengasse 31
CH-8001 Zürich
m.kaelin[at]arud.ch
1 Berendes A, Oeltjensbruns J, Beck T, Bruggmann P. Perioperatives Schmerz-Management unter Buprenophin-Langzeit-Therapie. Suchtmed. 2021;23(4):225–35.
2 Beck T, Broers B, Bruggmann P, Hämmig R. Medizinische Empfehlungen für Opioidagonistentherapie (OAT) bei Opioidabhängigkeits-Syndrom 2020. Suchtmed. 2021;23(4):233–89.
3 Rook EJ, Huitema ADR, von der Brink W, van Ree JM, Beijnen JH. Pharmacokinetics and Pharmacokinetic Variability of Heroin and its Metabolites. Current Clinical Pharmacology. 2006;1:109–18.
4 Krähenbühl S. Therapie mit Opioiden bei Patienten mit Leberzirrhose. Therapeutische Umschau. 2020;77(1):14–9.

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