Sonia Barbosa,
MHS,
Dr. med. Mickael Chevallay*,
Prof. Dr. med. Stefan Breitenstein*,
Dr. François Vermeulen,
Prof. Dr. med. Christian Toso,
Dr. med. Mickael Chevallay,
Prof. Dr. med. Stefan Breitenstein
a Service de chirurgie viscérale et transplantation, Hôpitaux universitaires de Genève (HUG), Genève; b Département Prestations et développement professionnel, Fédération des médecins suisses FMH, Berne; c Klinik für Viszeral- und Thoraxchirurgie, Kantonsspital Winterthur, Winterthur; d Département de chirurgie, HUG, Genève
Mehrere chirurgische Abteilungen haben die Rolle der «Physician Associates» in ihre Praxis integriert, mit Zufriedenheit bei den Patientinnen und Patienten, aber auch bei den Pflegeteams.
Geschichte und rechtliche Aspekte von «Physician Associates» in der Schweiz
«Physician Associates», kurz PAs, können in Geschichtsbüchern aus dem 18. Jahrhundert [1] gefunden werden. In ihrer modernen Definition können wir sie bis ins Jahr 1965 zurückverfolgen [2], als der erste Studiengang an der Duke University in North Carolina, USA, begann. In der Schweiz wurden sie 2014 am Kantonsspital Winterthur (KSW) informell eingeführt. PAs sind in der Schweiz unter verschiedenen Bezeichnungen in einem Kontext aufgetaucht, in dem neue Modelle für die Verteilung der Gesundheitsversorgung erforderlich sind. In der Tat ist die Schweiz gleichzeitig mit dem demographischen Druck einer alternden Bevölkerung sowie mit einem Mangel an Gesundheitspersonal konfrontiert. Derzeit wird der PA-Beruf im Bundesgesetz über die Gesundheitsberufe nicht offiziell anerkannt [3]. Ähnlich wie bei anderen Advanced-Practice-Rollen, die von nicht ärztlichen Leistungserbringenden übernommen werden, arbeiten PAs in einer rechtlichen Grauzone. Sie arbeiten strikt in Delegation einer Ärztin oder eines Arztes, die oder der die Verantwortung für diese delegierten Handlungen und für die gesamte Betreuung der Patientinnen und Patienten trägt. Daher gibt es keine spezifische Tarifierung für die delegierten Handlungen, die von PAs durchgeführt werden. Im stationären Bereich ermöglichen die «Diagnosis Related Groups» (DRGs) den Spitälern, ihre Ressourcen nach eigenem Ermessen zuzuweisen. Im ambulanten Bereich decken die bestehenden Tarifstrukturen mit Einzelleistungsvergütung die von PAs erbrachten Leistungen nicht ab. Trotz dieser Herausforderungen ist der PA-Beruf stetig gewachsen und sein Bildungsmodell hat sich entsprechend angepasst. Im Jahr 2020 hat die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH ihre Unterstützung für die Weiterentwicklung des PA-Berufs zum Ausdruck gebracht und strebt eine Formalisierung ihrer Ausbildung in enger Partnerschaft mit Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Interessengruppen an. Angesichts der Komplementarität der beiden Berufsprofile ist es notwendig, dass die Aufgabenverteilung so organisiert wird, dass die Grundkompetenzen und die beruflichen Tätigkeiten, die übertragen werden können, berücksichtigt werden. Die Erkenntnisse aus internationalen Erfahrungen haben gezeigt, dass die frühzeitige Einbindung der wichtigsten Interessengruppen von entscheidender Bedeutung ist [4]. Diese Beziehungen sind ausschlaggebend für die Qualität, die Tragfähigkeit und die Nachhaltigkeit des PA-Modells. Dies gilt insbesondere für die Schweiz, wo der Beruf noch in den Kinderschuhen steckt. Angesichts der grossen Zahl von Kandidatinnen und Kandidaten, die jedes Jahr das Ausbildungsprogramm der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) erfolgreich abschliesst, besteht hier ein beachtliches Entwicklungspotentzial. Bis 2025 wird es in der Schweiz etwa 300 tätige PAs geben.
Pioniere in der Schweiz: die Winterthurer Erfahrung
2014 wurde das Projekt «Physician Associate der chirurgischen Abteilung» in der Klinik für Viszeral- und Thoraxchirurgie des KSW mit nur einer Person in der Spitalabteilung gestartet. Ziel des Projekts war es, vor dem Hintergrund des zunehmenden Ärztemangels eine optimale und kontinuierliche Betreuung der Patientinnen und Patienten in der Abteilung zu gewährleisten. Aufgrund des ständig wechselnden Einsatzes der Assistenzärztinnen und -ärzte in der Chirurgie (Operationen, Notfälle, Sprechstunden) wurde die Tandemfunktion Arztperson/PA zu einem bewährten Prozess im Abteilungsalltag. Neben einem positiven Behandlungsergebnis für die Patientinnen und Patienten war es das Ziel, die Zufriedenheit der am Behandlungsprozess beteiligten Personen zu gewährleisten. Dem medizinisch interessierten Fachpersonal wurde eine neue, anregende berufliche Perspektive geboten und den Assistenzärztinnen und -ärzten die Möglichkeit gegeben, Managementverantwortung zu übernehmen. Das Projekt wurde anfangs natürlich kritisch betrachtet. Wie können Pflegefachpersonen Teil des medizinischen Teams sein und medizinische Aufgaben übernehmen? Die meisten der geäusserten Kritiken konnten während der Umsetzungsphase beantwortet werden. Die Kontinuität, Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit der PAs im Spitalalltag wurden sowohl von den Patientinnen und Patienten als auch vom medizinischen Personal dankbar aufgenommen.
Seit 2017 wurde in Zusammenarbeit mit dem Departement Gesundheit der ZHAW ein interprofessioneller Weiterbildungsstudiengang (CAS, Klinische Fachspezialistin / Klinischer Fachspezialist) strukturiert und eingeführt.
Heute sind PAs ein fester Bestandteil des medizinischen Teams und erfreuen sich grosser Beliebtheit. Die Tätigkeitsbereiche sind deutlich vielfältiger geworden. Am KSW sind PAs nicht nur in den chirurgischen Disziplinen tätig, sondern auch in der Pädiatrie, der Nephrologie, der Notaufnahme, der interventionellen Radiologie, der Angiologie, der Gynäkologie, der Onkologie, der Physiotherapie und im Operationssaal. Im Jahr 2023 wird das KSW-Team insgesamt mehr als 30 PAs umfassen, die sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich tätig sein werden. Das ehemalige Projekt ist nun ein strukturiertes Programm.
Einführung eines Programms für PAs oder klinische Assistentinnen und Assistenten: die Genfer Erfahrung
Bei Assistenzärztinnen und -ärzten in der Chirurgie kommt es häufig zu Arbeitsüberlastung. Neben der Verantwortung für die Patientinnen und Patienten auf der Bettenstation kommen noch die Zeit im Operationssaal und immer mehr administrative Aufgaben hinzu. Da die neue Bedürfnisklausel die Berufsaussichten für zukünftige Chirurginnen und Chirurgen verringert, müssen ihre Ausbildungsplätze bereits im Vorfeld reguliert werden. Vor diesem Hintergrund wurde beschlossen, PAs in der Abteilung für Viszeralchirurgie einzuführen. Das erste Hindernis war das Fehlen eines gesetzlichen Rahmens im kantonalen Gesetz für diese Rolle. Nach zahlreichen Gesprächen mit der Rechtsabteilung kam man zu dem Schluss, dass PAs im Rahmen des Konzepts der delegierten Handlung und damit unter der Verantwortung einer Ärztin oder eines Arztes arbeiten würden. In einem Rekrutierungsprozess, der allen Gesundheitsberufen mit einem Bachelor-Abschluss offen stand, wurden drei Kandidatinnen ausgewählt, die alle drei Pflegefachfrauen waren. Für die Betreuung der Patientinnen und Patienten durch die PAs wurden Entscheidungsalgorithmen für jede Pathologie der Viszeralchirurgie entwickelt. Die PAs folgen diesen Algorithmen bei der Entscheidungsfindung mit einer klaren Bestimmung, wann ein Anruf bei der/dem verantwortlichen Ärztin/Arzt erforderlich ist. Zusätzlich zu der in der Praxis gesammelten Erfahrung wurde parallel dazu eine 500-stündige Ausbildung über ein Jahr durchgeführt. Die PAs arbeiten immer im Zweierteam mit einem/einer Assistenzarzt/-ärztin und unter der Verantwortung eines/einer Oberarztes/-ärztin. Um das Funktionieren dieser neuen Rolle zu bewerten, wurde eine Umfrage unter Mitarbeitenden, die eng mit den PAs zusammenarbeiten, sechs und zwölf Monate nach der Einführung der neuen Rolle durchgeführt (Tab. 1). Diese zeigte sehr gute Ergebnisse in Bezug auf die Zufriedenheit, die Qualität der Zusammenarbeit und das Vertrauen in die PAs (Abb. 1).
Tabelle 1: Anzahl (%) der Teilnehmenden an den Umfragen im September 2021, März 2022 und Oktober 2022
September 21
März 22
Oktober 22
Pflegehelfer/-innen
6 (22%)
18 (25%)
10 (17%)
Pflegefachfrauen/-männer
11 (41%)
28 (39%)
24 (41%)
Klinische Assistenten/-innen
-
3 (4%)
3 (5%)
IPM
2 (7%)
2 (3%)
0 (0%)
Assistenzärzte/-innen
6 (22%)
12 (17%)
12 (21%)
Oberärzte/-innen
2 (7%)
8 (11%)
9 (16%)
Gesamtzahl
27
71
58
IPM: «Itinéraire Patient Manager».
Abbildung 1: Entwicklung der Antworten nach Einführung der Rolle (T0: Projektbeginn, T1: 6 Monate, T2: 12 Monate). A) Zufriedenheitsniveau hinsichtlich Zusammenarbeit mit den «Physician Associates» (PAs). B) Vertrauensniveau gegenüber PAs.
Die Anzahl der Patientinnen und Patienten sowie deren Komplexität nahmen mit der Gewandtheit der PAs stetig zu. Dies geschah, ohne dass es zu Zwischenfällen oder Komplikationen kam. Unserer Erfahrung nach gehen die PAs bei der Betreuung der Patientinnen und Patienten kein Risiko ein und rufen bei Zweifeln konsequent die zuständigen Ärztinnen und Ärzte an. Ausserdem haben sie nicht die operativen und akademischen Verpflichtungen der Assistenzärztinnen und -ärzte, wodurch sie verfügbarer sind. Die Akzeptanz in der Abteilung war dank einer angemessenen Kommunikation mit allen betroffenen Mitarbeitenden sehr hoch. Die Befürchtung, dass es wegen der Unkenntnis der PA-Rolle zu Konflikten zwischen den verschiedenen Beteiligten kommen könnte, erwies sich letztlich als unbegründet.
Dr. med. Mickael Chevallay
Service de chirurgie viscérale et transplantation, Hôpitaux universitaires de Genève (HUG), Genève
Sonia Barbosa, MHS
Service de chirurgie viscérale et transplantation, HUG, Genève; Département Prestations et développement professionnel, FMH, Berne
Prof. Dr. med. Stefan Breitenstein
Klinik für Viszeral- und Thoraxchirurgie, Kantonsspital Winterthur, Winterthur
Disclosure Statement
SB: Vortragshonorare von der Berner Fachhochschule, vom Institut et Haute École La Source sowie der Universität Luzern; Ehrenmitglied der Physician Associates Switzerland. Die anderen Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Korrespondenz
Dr. med. Mickael Chevallay
Service de chirurgie viscérale et transplantation
Hôpitaux universitaires de Genève
Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4
CH-1205 Genève
Mickael.Chevallay[at]hcuge.ch
Literatur
1 Ramer SC. The Russian feldsher: A PA prototype in transition. JAAPA. 2018;31(11):1–6.
3 Schweizerische Eidgenossenschaft. SR 811.21 – Bundesgesetz über die Gesundheitsberufe (GesBG). Letzter Zugriff am 14.01.2023. Abrufbar unter: https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2020/16/de
4 Ritsema T, Brown D, Vetrovsky D. International development of the physician assistant profession. In: Ballweg’s Physician Assistant: A Guide to Clinical Practice. 7th ed: Elsevier; 2021.