Wenn die Zahnprothese nicht mehr passt
Über das Leitsymptom hinausdenken

Wenn die Zahnprothese nicht mehr passt

Was ist Ihre Diagnose?
Ausgabe
2023/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09171
Swiss Med Forum. 2023;23(37):56-59

Affiliations
Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern: a Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin; b Universitätsklinik für Medizinische Onkologie


Publiziert am 13.09.2023

Fallbeschreibung

Der 73-jährige Patient stellte sich zum geplanten 4-Jahres-Nachsorgetermin bei Status nach Pankreaskarzinom 2017 vor, das kurativ mittels Duodenopankreatektomie und adjuvanter Chemotherapie behandelt worden war. In der Vorgeschichte des Patienten waren eine hypertensive und koronare Kardiopathie, ein ischämischer Hirninfarkt 2019, eine Gicht, ein übermässiger Alkoholkonsum und eine positive Raucheranamnese bekannt. Seine Medikation bestand aus Acetylsalicylsäure, Lisinopril, Metoprolol, Atorvastatin, Pankreatin und Pantoprazol. Er berichtete, dass seine Zahnprothese seit dem Vortag nicht mehr passe, weil das Zahnfleisch an Grösse zugenommen habe.
Welche Erkrankung kommt aufgrund der Anamnese und des klinischen Bildes differentialdiagnostisch am wenigsten infrage?
a) Gingivitis/Periodontitis
b) Sarkoidose
c) Medikamentennebenwirkung
d) Gicht
e) Akute Leukämie
Das Bild zeigt eine Gingivahyperplasie (Abb. 1). Bis auf Gicht können alle erwähnten Erkrankungen mit einer Gingivahyperplasie einhergehen. Eine Gingivitis oder Periodontitis waren bei unserem Patienten aufgrund der schlechten Mundhygiene eine mögliche Erklärung. Eine orale Beteiligung bei Sarkoidose ist selten, es kann jedoch zu oralen Knoten, Ulzerationen, Papeln und auch zu Gingivahyperplasie kommen [1]. Zu klassischen Medikamenten, die eine Gingivahyperplasie auslösen können, gehören Phenytoin, Cyclosporin und Calciumkanalblocker. Nach Stopp der auslösenden medikamentösen Therapie bildet sich die Gingivahyperplasie oft zurück [2, 3]. Unser Patient nahm keines der oben genannten Medikamente ein. Als seltenes Symptom kann es bei gewissen Formen einer akuten Leukämie zu einer Gingivahyperplasie kommen.
Abbildung 1: Klinische Untersuchung der Mundhöhle des Patienten. Gingivahyperplasie der Kauleiste im rechten (A) und linken (B) Oberkiefer.
In der weiteren klinischen Untersuchung fanden sich an diversen Körperstellen multiple, teils einzeln stehende, teils konfluierende erythematös-livide Plaques und Knoten (Abb. 2), die sich in den letzten zehn Tagen entwickelt hätten. Des Weiteren fanden sich eine zervikale und inguinale Lymphadenopathie sowie eine Splenomegalie. Es zeigten sich keine Hämatome oder Petechien, und die neurologische Untersuchung war unauffällig.
Abbildung 2: Klinische Untersuchung des Patienten. Erythematös-livide Plaques und Knoten im Bereich der Unterschenkel (A, B), der Brust und des Bauchs (C) sowie des Rückens (D).
Welches ist der am wenigsten geeignete Schritt für die weitere Abklärung?
a) Bestimmung des Differentialblutbilds
b) Überweisung zu Zahnarzt oder Zahnärztin
c) Bestimmung von Laktatdehydrogenase und Nierenretentionsparametern
d) Durchführung einer Computertomographie von Thorax und Abdomen
e) Bestimmung des Gerinnungsstatus
Auch wenn Beschwerden bei Prothesenträgerinnen und -trägern häufig durch eine lockere Zahnprothese bedingt sind, ist eine Zuweisung zum Zahnarzt oder zur Zahnärztin in diesem Fall mit Hinweisen auf eine systemische Erkrankung am wenigsten geeignet und würde die relevante weitere Abklärung verzögern. Die anderen genannten Massnahmen der Abklärung sind richtungsweisend bei systemischen Erkrankungen, wobei der Gerinnungsstatus insbesondere bei einer hämato-onkologischen Differentialdiagnose frühzeitig bestimmt werden soll, um eine disseminierte intravasale Koagulopathie zu erkennen.
Im Differentialblutbild stellte sich eine Panzytopenie (Hämoglobin 79 g/l, Leukozyten 1100/µl, Thrombozyten 40 G/l) ohne Nachweis von Blasten in der Differenzierung dar. Des Weiteren liessen sich laborchemisch eine erhöhte Laktatdehydrogenase, eine erhöhte Harnsäure sowie erhöhte D-Dimere bei sonst normalen Gerinnungsparametern nachweisen. Die Nieren- und Leberparameter waren normwertig. In der anschliessend durchgeführten Computertomographie des Thorax und Abdomens liessen sich eine Splenomegalie mit 16 cm Durchmesser sowie eine Lymphadenopathie retroperitoneal, iliakal rechts sowie inguinal beidseits nachweisen.
Was ist die wahrscheinlichste Diagnose?
a) Mundhöhlenkarzinom
b) Akute myeloische Leukämie
c) Haut- und Lymphknotenmetastasen bei bekanntem Pankreaskarzinom
d) Paraneoplastische Dermatomyositis
e) Primoinfektion mit dem Humanen Immundefizienz-Virus (HIV)
Ein Mundhöhlen- oder Pankreaskarzinom sind unwahrscheinlich aufgrund der ausgeprägten Panzytopenie ohne Hinweis auf eine ossäre Metastasierung in der Computertomographie und bei fehlendem Primär- respektive Rezidivtumor. Zudem sind die Hautläsionen nicht damit vereinbar.
Die Kardinalsymptome einer Myositis (proximale symmetrische Muskelschwäche) sowie typische Hautläsionen einer Dermatomyositis (z.B. Gottron-Papeln oder heliotropes Erythem) waren nicht vorhanden. Bei einer Primoinfektion mit dem Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) kann es neben einer Lymphadenopathie auch zu Hautveränderungen kommen, jedoch würde es sich hierbei eher um ein makulopapulöses Exanthem mit gut umschriebenen Läsionen ohne Indurierung handeln [4]. Zudem ist eine HIV-Primoinfektion nur mit einer milden Anämie und/oder Thrombozytopenie assoziiert. Der HIV-Suchtest fiel negativ aus.
Als nächsten Abklärungsschritt führten wir eine Knochenmarkpunktion durch. Hier liess sich die Diagnose einer akuten myeloischen Leukämie (AML) M5a (akute Monoblastenleukämie) mit einer Knochenmarkinfiltration von 95% stellen (Tab. 1). Ebenfalls konnte mittels Hautbiopsie die Leukämie als Ursache für die Hautinfiltration nachgewiesen werden.
Tabelle 1: Auszug aus der neuen WHO-Klassifikation 2022 der akuten myeloischenLeukämie (AML) nach Khoury et al. [5]1 (Klassifikationshierarchie absteigend)
Myeloische Neoplasie post-zytotoxischer Therapie
AML mit definierenden genetischen Anomalien
Akute Promyelozyten-Leukämie mit PML::RARA Fusion*
AML mit RUNX1::RUNX1T1 Fusion*
AML mit CBFB::MYH11 Fusion*
AML mit DEK::NUP214 Fusion*
AML mit RBM15::MRTFA Fusion*
AML mit BCR::ABL1 Fusion°
AML mit KMT2A Rearrangement*
AML mit MECOM Rearrangement*
AML mit NUP98 Rearrangement*
AML mit NPM1 Mutation*
AML mit CEBPA Mutation°
AML, Myelodysplasie-assoziiert°
AML mit anderen definierten genetischen Veränderungen°
AML mit RUNX1T3::GLIS2 Fusion
AML mit KAT6A::CREBBP Fusion
AML mit FUS::ERG Fusion
AML mit MNX1::ETV6 Fusion
AML mit NPM1::MLF1 Fusion
AML, definiert über Differenzierung°
AML mit minimaler Differenzierung
AML ohne Ausreifung
AML mit Ausreifung
Akute basophile Leukämie
Akute myelomonozytäre Leukämie
Akute monozytäre Leukämie
Akute erythroide Leukämie
Akute megakaryoblastäre Leukämie
* AML-definierende genetische Aberrationen, bei welchen die Diagnose einer AML auch bei einem Blastenanteil von <20% gestellt werden kann.
° Genetisch definierte AML-Subgruppen, die einen Blastenanteil von >20% in Blut oder Knochenmark zur Diagnosestellung zwingend fordern. Ausnahme: Akute Erythroleukämie, bei der die leukämische Zellpopulation aus Proerythroblasten und Makroblasten betsteht
WHO: World Health Organisation
1 Adaptiert aus: Khoury JD, Solary E, Abla O, Akkari Y, Alaggio R, Apperley JF, et al. The 5th edition of the World Health Organization Classification of Haematolymphoid Tumours: Myeloid and Histiocytic/Dendritic Neoplasms. Leukemia. 2022;36(7):1703–19. doi: 10.1038/s41375-022-01613-1. Copyright © The Author(s) 2022, licensed under a CC BY 4.0 License https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.

Diskussion

Die Diagnose einer AML erfolgt bei einem Blastenanteil von ≥20% im peripheren Blut oder im Knochenmark respektive beim Nachweis einer AML-definierenden genetischen Aberration (Tab. 1). Zur korrekten Diagnosestellung gemäss Klassifikation der «World Health Organisation» (WHO) müssen zudem immer die Zytogenetik und die Molekulargenetik bestimmt werden. Dies hilft auch, um die Prognose abzuschätzen. Bei der myelomonozytär/monoblastär differenzierten AML werden überdurchschnittlich häufig extramedulläre Manifestationen wie Hautinfiltrate, Meningeosis leucaemica, Gingivahyperplasie und Infiltration von Milz und Leber beobachtet. Da der Patient aufgrund seines Pankreaskarzinoms vorgängig eine Chemotherapie erhalten hatte, handelt es sich gemäss WHO-Klassifikation (Tab. 1) um eine myeloische Neoplasie post-zytotoxischer Therapie [5].
Welches Symptom erwarten Sie bei einer AML am wenigsten?
a) Leistungsknick, Müdigkeit
b) Blutungen
c) Häufige Infekte
d) Dyspnoe, Doppelbilder und Schwindel
e) Gewichtszunahme
Die klinische Präsentation bei einer AML ist durch die hämatopoetische Insuffizienz infolge der blastären Knochenmarkinfiltration geprägt: Es zeigen sich Müdigkeit und Leistungsknick bei Anämie, Blutungen bei Thrombopenie und vermehrte Infektanfälligkeit bei Neutropenie. Es kann zu einer disseminierten intravasalen Gerinnung und/oder einer Leukostase (v.a. bei Leukozytose >100 000/µl) kommen, beides entspricht einem hämatologischen Notfall und bedarf einer sofortigen zytoreduktiven Therapie. Die Symptome einer Leukostase umfassen unter anderem Dyspnoe, Schwindel, Doppelbilder und neurologische Ausfälle durch pulmonale respektive zerebrale Mikrozirkulationsstörungen, die durch die erhöhte Viskosität des Blutes aufgrund der hohen Anzahl an Blasten verursacht sind. Mit einer Gewichtszunahme ist bei einer malignen, konsumierenden Erkrankung nicht zu rechnen.
Welches ist kein Risikofaktor für eine Leukämie?
a) Rauchen
b) Alkohol
c) Vorgängige Radiotherapie
d) Vorgängige Chemotherapie
e) Vorbestehendes myelodysplastisches Syndrom
Risikofaktoren für eine AML sind Exposition gegenüber radioaktiver Strahlung, Rauchen und vorgängige Chemotherapien sowie ein vorbestehendes myelodysplastisches Syndrom [5]. Alkohol stellt keinen bekannten Risikofaktor dar.
Welche Therapie ist bei unserem Patienten empfohlen?
a) «Best Supportive Care»
b) Intensive, kurativ intendierte Chemotherapie mit allogener Stammzelltransplantation
c) Intensive, kurativ intendierte Chemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation
d) Palliativ intendierte Chemotherapie
e) Lokale Therapie mit Clobetasol
Patientinnen und Patienten mit einem biologischen Alter <75 Jahren und ohne signifikante Komorbiditäten (diabetisches Spätsyndrom, schwere Leber- oder Nierenerkrankungen, Herzinsuffizienz mit Ejektionsfraktion <30%) sollten eine kurativ intendierte Therapie der AML erhalten. Anhand der genetischen Analysen in Kombination mit den phänotypischen und morphologischen Befunden werden die Therapie gewählt sowie die Prognose respektive das Risiko für einen Rückfall festgelegt. Die kurativ intendierte Therapie umfasst eine Induktionstherapie (zwei Zyklen) mit dem Ziel der kompletten Remission und eine anschliessende Postremissionstherapie (ein Zyklus). Bei intermediärem oder hohem Rückfallrisiko wird eine allogene Stammzelltransplantation als Postremissionstherapie bevorzugt [6]. Vor einer Therapie sollten fertilitätserhaltende Massnahmen mit den jüngeren Patientinnen und Patienten (Betroffene sollten die Volljährigkeit ihres Kindes erleben können) besprochen werden. Bei Männern erfolgt eine Samenspende (ggf. im Rahmen einer Hodenbiopsie), bei Frauen sind die Massnahmen leider sehr limitiert, da eine Eizellspende aufgrund der fehlenden Zeit für eine hormonelle Stimulation vor Beginn der Chemotherapie oft nicht infrage kommt.
Für Patientinnen und Patienten, die sich nicht für eine kurativ intendierte Therapie qualifizieren, ist die aktuell erste Wahl für eine palliative Therapie die Kombinationstherapie mit Azacitidin und Venetoclax [7]. Ebenfalls kann eine Kombinationstherapie mit Azacitidin und Venetoclax als weniger intensive Induktionstherapie bei älteren Personen mit anschliessender kurativer Option mittels allogener Stammzelltransplantation angewandt werden. Die AML verläuft unbehandelt in kurzer Zeit tödlich.
Eine spezielle Subform stellt die akute Promyelozyten-Leukämie (APL) dar. Hier muss bereits bei Verdacht auf eine APL bei allen Erkrankten eine Therapie mit all-trans-Retinsäure (ATRA) eingeleitet werden, die bei Bestätigung der APL um eine APL-spezifische zytostatische Therapie ergänzt wird. Die Behandlungsstrategie ist immer kurativ und die Prognose gut.
Unser Patient qualifizierte sich in Anbetracht seines biologischen Alters von >75 Jahren und seiner Komorbiditäten (hypertensive und koronare Kardiopathie, Status nach ischämischem Hirninfarkt) nicht für eine intensive, kurativ intendierte Therapie, und wir initiierten eine palliative Therapie mit Venetoclax per os und Azacitidin subkutan. Unter der palliativen Therapie zeigte sich in der Knochenmarkuntersuchung nach dem ersten Zyklus eine komplette morphologische Remission der AML. Die Therapie wurde auch vier Monate nach Diagnosestellung gut vertragen, und der Patient erfreute sich eines ordentlichen Allgemeinzustandes.
Frage 1: d. Frage 2: b. Frage 3: b. Frage 4: e. Frage 5: b. Frage 6: d.
Dr. med. Nora Sutter
Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben. TT ist Präsident der Swiss Young Internists (SYI), Bern.
Dr. med. Nora Sutter
Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin
Inselspital
Freiburgstrasse
CH-3010 Bern
nora.sutter[at] insel.ch
1 Suresh L, Radfar L. Oral sarcoidosis: a review of literature. Oral Dis. 2005;11(3):138–45.
2 Steele RM, Schuna AA, Schreiber RT. Calcium antagonist-induced gingival hyperplasia. Ann Intern Med. 1994;120(8):663–4.
3 Mathur H, Moretti AJ, Flaitz CM. Regression of cyclosporia-induced gingival overgrowth upon interruption of drug therapy. Gen Dent. 2003;51(2):159–62.
4 Lapins J, Gaines H, Lindbäck S, Lidbrink P, Emtestam L. Skin and mucosal characteristics of symptomatic primary HIV-1 infection. AIDS Patient Care STDS. 1997;11(2):67–70.
5 Khoury JD, Solary E, Abla O, Akkari Y, Alaggio R, Apperley JF, et al. The 5th edition of the World Health Organization Classification of Haematolymphoid Tumours: Myeloid and Histiocytic/Dendritic Neoplasms. Leukemia. 2022;36(7):1703–19.
6 Schlenk RF, Döhner H. Genomic applications in the clinic: use in treatment paradigm of acute myeloid leukemia. Hematology Am Soc Hematol Educ Program. 2013;2013:324–30.
7 DiNardo CD, Jonas BA, Pullarkat V, Thirman MJ, Garcia JS, Wei AH, et al. Azacitidine and venetoclax in previously untreated acute myeloid leukemia. N Engl J Med. 2020;383(7):617–29.

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