Milzinfarkte als Erstmanifestation einer Polycythaemia vera
Akutes Abdomen

Milzinfarkte als Erstmanifestation einer Polycythaemia vera

Der besondere Fall
Ausgabe
2023/2728
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09141
Swiss Med Forum. 2023;23(2728):52-56

Affiliations
Hirslanden Klinik St. Anna, Luzern: a 24h-Notfallzentrum; b Institut für Radiologie und Nuklearmedizin; c Zentrum für Onkologie Luzern; d Klinik für Innere Medizin


Publiziert am 05.07.2023

Hintergrund

Die Polycythaemia vera (PV) gehört zu den Philadelphia-(Ph-)Chromosom-negativen myeloproliferativen Erkrankungen und ist durch die Erhöhung aller drei Blutzellreihen charakterisiert. Die V617F-Mutation im JAK2-Gen in Exon 14 ist in mindestens 95% der Fälle nachweisbar und gilt als eines der beiden Hauptkriterien für die Diagnose [1, 2]. Bei einem Grossteil der V617F-negativen Patientinnen und Patienten mit einer PV kann eine JAK2-Mutation in Exon 12 nachgewiesen werden [3]. Die Betroffenen sind bei Diagnosestellung oft oligosymptomatisch [4]; in etwa 20% der Fälle führen vaskuläre Komplikationen zur Diagnose [5]. Diese können in mikrovaskuläre (zum Beispiel Erythromelalgie) oder makrovaskuläre Komplikationen (tiefe Venenthrombose [TVT] / Lungenembolie, abdominelle Venenthrombosen, periphere arterielle Verschlusskrankheit [PAVK] und chronisch venöse Insuffizienz [CVI]) unterteilt werden. Bei der Pathogenese spielen der erhöhte Hämatokrit und aktivierte Thrombozyten sowie entzündliche Prozesse eine Rolle [6].
Wir berichten von einem Patienten mit multiplen Milzinfarkten als Erstmanifestation der Erkrankung.

Fallbericht

Anamnese

Ein 54-jähriger Patient wurde durch den Rettungsdienst mit akut einsetzenden Oberbauchschmerzen (visuelle Analogskala [VAS] 6/10) mit gürtelförmiger Ausstrahlung in beide Flanken zugewiesen. Der Patient berichtete von einer ähnlichen, jedoch deutlich milderen und selbstlimitierenden Schmerzepisode sieben Tage zuvor. Seither sei der Appetit vermindert gewesen. Vorerkrankungen waren nicht bekannt, ebenso bestand keine regelmässige Medikation.

Status

Temperatur: 36,1 °C, Blutdruck: 150/78 mm Hg, Herzfrequenz: 107/min (regelmässig), Atemfrequenz: 23/min, Sauerstoffpartialdruck: 91%.
Es zeigte sich das Bild eines akuten Abdomens mit spärlichen Darmgeräuschen und generalisiertem Peritonismus.

Befunde

In der Abdomensonographie zeigte sich freie Flüssigkeit im Morrison-Pouch und im Unterbauch sowie eine Inhomogenität der Milz. Im Hämatogramm fiel eine Erhöhung aller drei Zellreihen auf (Hämoglobin: 202 g/l, Thrombozyten: 607 G/l, Leukozyten: 18,4 G/l). Ausserdem lagen ein erhöhter Wert des C-reaktiven Proteins (CRP) von 218 mg/l und eine spontane INR-(«International Normalized Ratio»-)Erhöhung von 1,4 bei unauffälligen Leberparametern vor. Die Komplettierung des Gerinnungsstatus ergab erhöhte Werte an D-Dimeren (11 210 µg/l) (Tab. 1).
Tabelle 1: Verlauf der Laborwerte während der ersten Hospitalisation des Patienten
Phlebotomie (500 ml*), Therapie mit Hydroxycarbamid 500 mg (initial 2-0-1**, dann 1-0-0***)
 ***  ***  
 16.05.
23.00 Uhr
17.05.
05.00 Uhr
18.05.
06.00 Uhr
19.05.
08.00 Uhr
21.05.
08.15 Uhr
Norm-bereichEinheit
Hämatogramm
Hämoglobin203163 162145140–180g/l
Hämatokrit0,590,47 0,470,430,4–0,52 l/l
Erythrozyten6,695,3 5,294,954,3–5,9 Tera/l
MCH 3031 312926–34pg
MCHC347347 345336320–360g/l
MCV8789 898782–98fl
Leukozyten18,429,4 23,44,54,0–10,0Giga/l
Thrombozyten607501 490374150–350Giga/l
Klinische Chemie
Natrium135139144  136–145mmol/l
Kalium5,254,485,67  3,5–5,0mmol/l
CRP218,3170,6508,2335,1235,1<5 mg/l
EPO 6,0   3,7–29,5 IU/l
ASAT (GOT)333565   U/l
ALAT (GPT)534353   U/l
Kreatinin686388776762–106µmol/l
Laktat   1,29 0,5–2,2mmol/l
LDH 355     U/l
Gerinnung
Quick495646626770–130%
INR1,41,31,51,21,20,9–1,2 
aPTT42,248,0   25,1–37,7sec
Fibrinogen6,14,87,26,7 1,7–4,2g/l
D-Dimer11 210 14 530  <500µg/l
MCH: mittleres korpuskuläres Hämoglobin; MCHC: mittlere korpuskuläre Hämoglobin-Konzentration; MCV: mittleres Erythrozyten-Einzelvolumen; CRP: C-reaktives Protein; EPO: Erythropoetin; ASAT: Aspartat-Aminotransferase; GOT: Glutamat-Oxalacetat-Transaminase; ALAT: Alanin-Aminotransferase; GPT: Glutamat-Pyruvat-Transaminase; LDH: Laktatdehydrogenase; INR: «International Normalized Ratio»; aPTT: aktivierte partielle Thromboplastinzeit.
In der Computertomographie (CT) des Abdomens fanden sich multiple Milzinfarkte bei leichter Splenomegalie und eine unspezifische Wandverdickung des Colon sigmoideum mit Kolondivertikulose, jedoch ohne Hinweise auf eine Divertikulitis oder Hohlorganperforation (Abb. 1).
Abbildung 1: Computertomographische Aufnahme des Abdomens mit Kontrastmittel, portal-venöse Phase in axialer Schnittführung. Es sind multiple Milzinfarkte in der Peripherie bei geringer Splenomegalie (Pfeile) zu erkennen.

Diagnose

Differentialdiagnostisch kam für die Milzinfarkte aufgrund der PV primär eine hämatologische Grunderkrankung infrage. Der Nachweis einer V617F-Mutation im JAK2-Gen aus dem Peripherblut im Verlauf war suggestiv für die Diagnose einer PV. Die Diagnosekriterien sind in Tabelle 2 aufgeführt.
Tabelle 2: Diagnosekriterien der Polycythaemia vera (PV) gemäss WHO 2017
HauptkriterienNebenkriterium
Hb >16,5 g/dl (M) bzw. >16,0 g/dl (F) oder Hämatokrit >49% (M) / >48% (F) oder Erhöhung der Erythrozytenzahl um >25% des erwarteten Durchschnittswerts 
Knochenmarkbiopsie mit Hyperzellularität mit trilineärer Myeloproliferation und pleomorpher Megakaryopoese 
Nachweis einer Mutation im JAK2-Gen (JAK2: V617F- oder Exon-12-Mutation) 
 Erniedrigter Erythropoetin-Spiegel
Die Diagnose PV erfordert entweder alle drei Hauptkriterien oder zwei Hauptkriterien und das Nebenkriterium. Auf eine Knochenmarkpunktion kann bei einem Hämoglobinwert >18,5 g/dl (Männer [M]) beziehungsweise >16,5 g/dl (Frauen [F]) verzichtet werden.
WHO: Wold Health Organization.
Aus [12]: WHO Classification of Tumours of Haematopoietic and Lymphoid Tissues. Swerdlow SH, Harris NL, Jaffe ES, Pileri SA, Stein H, Thiele J, editors. Volume 2. 4th rev. ed. Frankreich: IARC/WHO; 2017. © 2017 IARC/WHO. Nachdruck und Übersetzung mit freundlicher Genehmigung. Übersetzt ins Deutsche von EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG aus 'WHO Classification of Tumours of Haematopoietic and Lymphoid Tissues', 2017. IARC/WHO ist nicht verantwortlich für den Inhalt oder die Richtigkeit dieser Übersetzung. Im Falle von Unstimmigkeiten zwischen der englischen und der deutschen Übersetzung ist die englische Originalversion die verbindliche und authentische Version.

Therapie

Bei dringendem Verdacht auf eine PV mit komplizierenden Milzinfarkten begannen wir noch in der Eintrittsnacht mit einem Aderlass (Phlebotomie) von 500 ml, einer Antikoagulationstherapie mit Acetylsalicylsäure (Loading Dose 500 mg i.v., anschliessend 100 mg 1×/Tag) und ergänzend Heparin 15 000 IU pro 24 Stunden. Am Folgetag wurde eine zytoreduktive Therapie mit Hydroxycarbamid 500 mg (2-0-1) begonnen. Aufgrund des klinischen Bildes eines akuten Abdomens und deutlicher Erhöhung der Entzündungsparameter begannen wir zusätzlich, mit Piperacillin/Tazobactam 4,5 g alle acht Stunden intravenös zu behandeln.

Verlauf

Am Folgetag bestand weiterhin eine Vier-Quadranten-Peritonitis; ausserdem kam es zu einem deutlichen CRP-Spiegel-Anstieg. Eine Verlaufs-CT des Abdomens mit Angiographie mit der Frage nach einer Darmischämie zeigte wie bereits in der Voruntersuchung eine unspezifische Kontrastmittelaufnahme der Darmschlingen, insbesondere im Bereich des Colon sigmoideum und des Rektums. Die venösen und arteriellen Gefässe stellten sich offen dar. Die antibiotische Therapie wurde wegen einer möglichen bakteriellen Translokation bei entzündlich veränderter Kolonwand und kritischem Allgemeinzustand für insgesamt fünf Tage fortgeführt. Die hochprophylaktische Antikoagulationsbehandlung wurde bei fehlendem Nachweis einer Pfortader- oder Milzvenenthrombose auf eine prophylaktische Antikoagulation mittels Dalteparin subkutan umgestellt. Es kam im Verlauf labordiagnostisch zu einer adäquaten Zytoreduktion und klinisch zu einer Schmerzreduktion. Hydroxycarbamid wurde auf eine Erhaltungsdosis von 500 mg/Tag reduziert. Nach sechs Tagen Hospitalisation trat der Patient schmerzkompensiert und in ordentlichem Allgemeinzustand nach Hause aus.
Bei einer ambulanten Kontrolle drei Tage nach Austritt berichtete der Patient über erneute diffuse abdominelle Schmerzen. Bei ordentlichem Allgemeinzustand wurde der Patient engmaschig ambulant nachkontrolliert. Aufgrund einer Schmerzzunahme sowie deutlicher Appetitminderung wurde zwei Wochen nach Austritt eine Verlaufsbeurteilung mittels CT-Abdomen durchgeführt. Diese ergab neu eine fokale Perforation im mittleren Colon sigmoideum mit extraluminalen Gas- und Flüssigkeitskollektionen sowie mehrere Abszesskollektionen, die grösste davon mit einem Durchmesser von bis zu 15 cm im ventralen Unterbauch (Abb. 2).
Abbildung 2: Computertomographische Aufnahme des Abdomens mit Kontrastmittel, portal-venöse Phase in axialer Schnittführung. Es zeigt sich eine 7 × 15,5 × 12,5 cm grosse peritoneale abgekapselte Flüssigkeitskollektion ventral im Unterbauch, einem Abszess entsprechend (Pfeil).
Der Patient wurde zur CT-gesteuerten Drainage der grössten Abszesskollektion und zur intravenösen antibiotischen Therapie mit Piperacillin/Tazobactam erneut stationär aufgenommen. In der CT-Verlaufsbildgebung zwei Tage nach Drainageeinlage zeigte sich eine deutliche Grössenregredienz des drainierten Abszesses im Bereich der ventralen Bauchwand.
Der Patient trat nach sechs Tagen erneut nach Hause aus. Die antibiotische Therapie wurde für weitere sieben Tage auf Ciprofloxacin sowie Metronidazol oralisiert. Vier Wochen später stellte sich der Patient abermals mit abdominellen Schmerzen und vermindertem Allgemeinzustand vor. Computertomographisch zeigte sich ein Abszessrezidiv im ventralen Unterbauch mit weiterhin nachweisbarer Perforation im Colon sigmoideum. Es erfolgten erneut eine CT-gesteuerte Abszessdrainage sowie eine antimikrobielle Therapie. Bei Rezidivabszess bestand die Indikation zur Sigmaresektion à froid, die im Verlauf mittels offener Rektosigmoidresektion mit lateroterminaler Deszendorektostomie durchgeführt wurde. Intraoperativ zeigte sich eine schwere Sigmoiditis. Die histologische Aufarbeitung ergab den Befund einer perforierten Sigmadivertikulitis mit Serositis im Sinne einer Peritonitis. Hinweise für ein ischämisches Geschehen im Bereich der Mikrozirkulation liessen sich nicht nachweisen. Der postoperative Verlauf gestaltete sich komplikationslos. Die ambulante Verlaufskontrolle nach Austritt zeigte reizlose Wundverhältnisse bei beschwerdefreiem Patienten. Bezüglich der PV liess sich mit Hydroxycarbamid 500 mg/Tag weiterhin eine ausreichende Zytoreduktion erreichen.

Diskussion

Die PV zählt zu den Ph-Chromosom-negativen chronischen myeloproliferativen Neoplasien, zu denen auch die essentielle Thrombozythämie sowie die primäre Myelofibrose zählen. Die PV ist durch eine gesteigerte Erythropoese charakterisiert, die Erythropoetin-(EPO-)unabhängig verläuft [1].
In einer retrospektiven Studie der italienischen Studiengruppe «Policitemia» aus dem Jahr 1995 mit 1213 Patientinnen und Patienten traten thromboembolische Komplikationen im Verlauf bei 40% der Unbehandelten auf [5]. Bei 20% der untersuchten Probandinnen und Probanden führten thromboembolische Ereignisse als Primärmanifestation zur Diagnosestellung. Auch in unserem Fall wurde die Diagnose der PV im Zusammenhang mit einer thromboembolischen Komplikation gestellt. Die typischen Frühsymptome wie Kopfschmerzen, Gesichtsröte und Pruritus [7] wurden vom Patienten verneint. In der genannten italienischen Studie wurde kein Fall eines Milzinfarktes als Primärmanifestation beschrieben [5]. Eine Suche in der Datenbank PubMed ergab lediglich fünf Fallberichte, in denen Milzinfarkte als Erstmanifestation einer PV beschrieben wurden (Tab. 3). In vier Fällen wurde kurzfristig (Nachbeobachtungszeitraum maximal sechs Wochen respektive keine Nachbeobachtungszeit angegeben) ein gutes Outcome ohne Notwendigkeit einer chirurgischen Intervention nach Beginn einer zytoreduktiven Therapie respektive nach repetitiven Aderlässen beschrieben [8–11].
Tabelle 3: Übersicht über die bereits publizierten Fälle von Milzinfarkten als Erstdiagnose einer Polycythaemia vera (PV)
Autor JahrPatienten-alterGeschlechtLaborparameter bei DiagnosestellungTherapieOutcome
Beckett et al. [8]200451wLc 18 G/l
Th 709 G/l
Hb 19,5 gdl
Volle Antikoagulation (bei nachweislicher Milzvenenthrombose)
Aderlass
Hydroxyurea
Allopurinol
Gutes Befinden bei Nachkontrolle (Zeitpunkt nicht angegeben)
Inamdar et al. [9]201345mLeukozytose
Thrombozytose
Hb 20,0 g/dl
Hkt 64%
EPO 6,0 mlU/ml
JAK-2-Mutation-positiv
Knochenmarkzytologie mit trilineärer Hyperzellularität
Aderlass 1×/Woche
Hydroxyurea 500 mg/Tag
Nach 4 Wochen: Hb 14 g/dl, Milzinfarkte im CT rückläufig
Lim et al. [10]201342mLc 14,6 G/l
Th 354 G/l
Hb 20,5 g/dl
EPO 0 U/l
JAK-2-Mutation-positiv
Aderlass (4×, je 300–400 ml)Bei Austritt gutes Befinden (Zeitpunkt nicht angegeben)
Yavasoglu et al. [11]200679mLc 26,6 G/l
Th 1032 G/l
Hb 16,6 g/dl
Deletion von Chromosom 20 (langer Arm)
Knochenmarkzytologie: Hyperzellularität
Thrombozytenapherese (2×)
ASS 40 mg/Tag
Hydroxyurea 3 g/Tag  im Verlauf Reduktion auf 1,5 g/Tag
Nach 1,5 Monaten adäquate Zytoreduktion, im Verlaufs-CT Milzinfarkte nicht mehr nachweisbar
Fink [16]197049mLc 36 G/l), 80% Neutrophile
Hb 18,8 g/dl
Hkt 61%
Aderlass (4×, insgesamt 2000 ml)
Busulfan 6 mg/Tag über 2 Monate
Initial Erholung des Befindens, Normalisierung des Blutbildes nach der zweimonatigen Therapie mit Busulfan
Nach 1 Jahr erneute Erhöhung der Werte von Lc, Hb und Th
Nach 2 Jahren Progress in MF
Nach 3 Jahren Progress in AML und Tod
Lc: Leukozyten; Th: Thrombozyten; Hb: Hämoglobin; Hkt: Hämatokrit; EPO: Erythropoetin; MF: Myelofibrose; CT: Computertomogramm; ASS: Acetylsalicylsäure; AML: akute myeloische Leukämie; w: weiblich; m: männlich.
Die Diagnose der PV lässt sich anhand der World-Health-Organization-(WHO-)Diagnosekriterien (2017) stellen (Tab. 2) [12]. Formal liesse sich in unserem Fall gemäss WHO-Kriterien bei einem EPO-Spiegel im unteren Normbereich die Diagnose der PV nur mit dem Nachweis typischer Knochenmarkveränderungen (Tab. 2) stellen. Die nachweisbare JAK2-Genmutation in Kombination mit den sehr deutlichen Blutbildveränderungen war jedoch so suggestiv für eine PV, dass auf eine Knochenmarkpunktion verzichtet wurde. In einer Arbeit von Lupak und Team aus dem Jahr 2020 wurde die Rolle des EPO-Spiegels bei der Diagnosestellung der PV untersucht. Hierbei hatten 32% (n = 24) der Betroffenen bei Diagnosestellung der PV einen normalen EPO-Spiegel. Nikotinkonsum war in der Studie gehäuft mit einem normalen EPO-Spiegel assoziiert [13], wie es auch bei unserem Patienten der Fall war.
Therapeutisch steht bei der PV eine Vermeidung thromboembolischer Komplikationen im Vordergrund. Hierfür ist eine Senkung des Hämatokrits auf <0,45 anzustreben.
Bei unserem Patienten konnte durch Aderlass wenige Stunden nach Erstkontakt eine rasche Reduktion des Hämatokritwerts erreicht werden (Tab. 1); ausserdem war bereits bei Eintritt eine Therapie mit Acetylsalicylsäure [14] eingeleitet worden. Da unser Patient nach stattgehabten thromboembolischen Milzinfarkten der Hochrisikogruppe zugeordnet wurde [7], begannen wir innerhalb von 24 Stunden mit einer zytoreduktiven Therapie mit Hydroxycarbamid. Die Behandlung mit diesem Wirkstoff gilt als Erstlinientherapie zur Zytoreduktion bei PV. Es hemmt die DNA-Synthese. Bei Kontraindikationen (unter anderem Patientinnen mit Kinderwunsch, Einnahme gewisser antiretroviraler Arzneimittel) kann auch Interferon alpha eingesetzt werden [7]. Unter zytoreduktiver Therapie sind im Verlauf selten Aderlässe notwendig. Die Nachsorge der Patientinnen und Patienten umfasst regelmässige Blutbildkontrollen. Diese sollten in der Anfangsphase der Therapie mehrmals wöchentlich, nach Stabilisierung einmal im Monat erfolgen. Eine sonographische Untersuchung der Milz wird einmal jährlich empfohlen. Im Verlauf kann die PV in eine Post-PV-Myelofibrose übergehen, die durch eine Anämie und Splenomegalie gekennzeichnet ist. Ebenso ist ein Übergang in eine akute myeloische Leukämie (AML) möglich [15].
Die pathologische Aufarbeitung der Darmresektate zeigte eine perforierte Sigmadivertikulitis. Auf mikroskopischer Ebene bestand kein Hinweis auf eine Störung der Mikrozirkulation als Ursache für ein Darmischämie. Auch in allen computertomographischen Bildgebungen des Abdomens zeigten sich die darmversorgenden Gefässe offen. Es stellte sich die Frage, ob die Sigmadivertikulitis bereits initial vorhanden gewesen war. In den an Tag 0 und Tag 1 durchgeführten Bildgebungen zeigte sich jedoch auch retrospektiv eine unspezifische Entzündungsreaktion mit reizloser Sigmadivertikulose ohne Nachweis einer Perforation. Zusammenfassend gehen wir von einer sekundären Entwicklung einer Sigmadivertikulitis bei vorbestehenden Divertikeln sowie geschädigter Darmwand im Bereich des Colon sigmoideum aus. Auch wenn histologisch nicht fassbar, war in der Pathogenese eine passagere Mikrozirkulationsstörung der Darmwand, verbunden mit der massiven generalisierten Entzündungsreaktion, ein möglicher Kofaktor. Möglicherweise bewirkte die Therapie mit Hydroxycarbamid die schlechte Abheilung der Divertikulitis. Über PubMed fanden wir keinen Fall, in dem eine Sigmadivertikulitis im Zusammenhang mit Milzinfarkten beschrieben wurde.

Das Wichtigste für die Praxis

Thromboembolische Komplikationen können die Erstmanifestation einer myeloproliferativen Erkrankung darstellen und sich als akutes Abdomen präsentieren.
Mögliche Frühsymptome der Polycythaemia vera sind Kopfschmerzen, Gesichtsröte und Pruritus.
Die rasche Einleitung einer zytoreduktiven Therapie sowie einer Thrombozytenaggregationshemmung zur Vermeidung thromboembolischer Ereignisse sind entscheidend.
Dr. med. Evelyn Kowarik
24h-Notfallzentrum,
Hirslanden Klinik St. Anna, Luzern
Wir danken Frau Prof. Dr. Ellen Obermann, Abteilung Pathologie des Luzerner Kantonsspitals, für die Befundung der Operationspräparate.
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. Evelyn Kowarik
24h-Notfallzentrum
Hirslanden Klinik St. Anna
St. Anna-Strasse 32
6006 Luzern
Schweiz
evelyn.kowarik[at]luks.ch
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