a Allgemeine Innere Medizin, Spital Limmattal, Schlieren; b Institut für Anästhesie und Intensivmedizin, Spital Limmattal, Schlieren; c Universität Zürich
Nach Einnahme von 2 g Escitalopram sowie Heroin und Kokain in suizidaler Absicht alarmierte eine 21-jährige Frau den Rettungsdienst und wurde auf die Notfallstation gebracht.
Hintergrund
Wir berichten über eine 21-jährige Patientin, die nach Einnahme von 100 Tabletten Cipralex® à 20 mg (2 g Escitalopram) in suizidaler Absicht ein Serotonin-Syndrom entwickelte.
Fallbericht
Anamnese
Nach Einnahme von 100 Tabletten Cipralex® à 20 mg (2 g Escitalopram) sowie Heroin und Kokain in suizidaler Absicht alarmierte die 21-jährige Patientin den Rettungsdienst und wurde auf die Notfallstation gebracht. Erst seit zwei Wochen nahm sie an einem Methadonprogramm teil, um von ihrer Polytoxikomanie loszukommen.
Sie stand in regelmässiger psychiatrischer Behandlung aufgrund einer depressiven Störung, einer schizoiden Persönlichkeitsstörung und eines Asperger-Syndroms. Als Dauermedikation nahm sie Fluanxol® ein.
Status
Die Patientin wies bei Eintritt multiple Schnittverletzungen auf, die chirurgisch versorgt werden mussten. Sie war tachykard (Puls 121/min), normoton (Blutdruck 122/63 mm Hg), afebril und hatte eine Sauerstoffsättigung (SpO2) von 95% unter Raumluft. Im internistisch-neurologischen Status zeigten sich ein Exophthalmus, periorale Faszikulationen, mittelweite Pupillen und eine deutliche Agitation.
Gemäss telefonischer Auskunft des Tox-Zentrums in Zürich seien keine lebensbedrohlichen Komplikationen durch die Einnahme von Escitalopram zu erwarten, die Patientin müsse aber etwa vier Stunden auf der Notfallstation überwacht werden. Maximale Plasmaspiegel seien zirka vier Stunden nach Einnahme zu erwarten.
Im 12-Ableitungs-Elektrokardiogramm (EKG) war keine QTc-Zeit-Verlängerung erkennbar. Daher wurde die weiterhin suizidale und agitierte Patientin nach der Überwachung wegen Selbstgefährdung im Sinne einer fürsorgerischen Unterbringung in eine Psychiatrische Klinik überwiesen.
Verlauf
Am Abend des Überweisungstages wurde die Patientin notfallmässig wegen Verdachts auf ein Serotonin-Syndrom von der Psychiatrischen Klinik auf die Notfallstation des nächstgelegenen Akutspitals verlegt. Sie entwickelte Myoklonien am ganzen Körper, konnte nicht mehr gehen und nur noch mit Mühe sprechen. Ein Urinabgang oder Zungenbiss wurden nicht beobachtet. Wegen fehlender Bettenkapazität wurde die Patientin auf die Intensivstation des primär involvierten Akutspitals eingewiesen.
Bei Eintritt war ihr Allgemeinzustand reduziert, kardiopulmonal war sie stabil (Blutdruck 119/76 mm Hg, Puls 78/min), mit einer SpO2 96% unter Raumluft sowie einer Temperatur von 38,1 °C. Sie war wach, aber desorientiert und agitiert. Bei der neurologischen Untersuchung fand sich weder ein Blickrichtungsnystagmus noch ein okulärer Klonus, hingegen waren alle Muskeleigenreflexe gesteigert. Die Hände wiesen einen feinschlägigen Tremor auf, und der Gang war unsicher und breitbeinig.
Die kardiale und pulmonale Untersuchung war unauffällig, die Darmgeräusche waren rege. Am Hals zeigten sich verkrustete, oberflächliche, frische Schnittverletzungen. An beiden Armen waren Narben von alten Schnittwunden sichtbar.
Laborchemisch fand sich ein erhöhtes Myoglobin mit 26 360 µg/l (Norm 25–58), eine erhöhte Kreatininkinase mit 276 E/l (Norm <170) sowie erhöhte Transaminasen: ASAT 770 E/l (Norm <35) und ALAT 143 E/l (Norm <35). Die toxikologische Urinuntersuchung war positiv für Benzodiazepine, Kokain, Methadon und Morphium/Opiate.
Im Verlauf stieg die Kreatininkinase deutlich bis auf maximal 115 430 E/l an. Trotz intensiver Hydrierung zur Prophylaxe eines tubulären Schadens durch das Myoglobin war der Urin deutlich bräunlich-violett verfärbt. Die Nierenretentionsparameter verschlechterten sich vorübergehend mit einem maximalen Kreatininwert von 94 µmol/l (Ausgangswert 80), entsprechend einer eGFR-Verschlechterung von 112 ml/min auf 69 ml/min. Die Myoklonien waren – auch als Folge der Therapie mit Benzodiazepinen – am Folgetag schon deutlich regredient, die ausgeprägte Hyperreflexie blieb für zwei Tage bestehen und verschwand dann allmählich.
Diskussion
Das Serotonin-Syndrom [1, 2] ist eine unerwünschte, potentiell lebensbedrohliche Arzneimittelreaktion durch Serotonin-Agonisten [3, 4]. Es kann in seltenen Fällen schon bei Einnahme empfohlener Dosierungen vorkommen, häufiger jedoch ist es die Folge einer Überdosierung. Letztere kann durch ein einzelnes Medikament bedingt sein, oft sind aber gleichzeitig verschiedene Serotonin-Agonisten und Substanzen mit Serotonin-Transporter-Hemmung wie Kokain oder Methadon [5] involviert, die additiv über vermehrtes Serotonin in den Synapsen der zerebralen serotonergen Neuronen zu einem Serotonin-Syndrom führen.
Medizinhistorisch bekannt ist der Fall der 18-jährigen Patientin Libby Zion aus New York [6]. Sie starb 1984 an einem Serotonin-Syndrom, resultierend aus der Gabe von Pethidin und des Antidepressivums Phenelzin (selektiver MAO-Hemmer, MAOI) durch unerfahrene und überarbeitete Assistenzärzte, die zudem ungenügend supervidiert wurden. Der Fall führte zu einer jahrelangen medialen und juristischen Auseinandersetzung. In der Folge wurde in den USA das sogenannte «Libby Zion law» eingeführt, das unter anderem die Arbeitszeiten der Assistenzärzte reguliert.
Klassischerweise fusst die Diagnose Serotonin-Syndrom auf der Trias: autonome Hyperaktivität, qualitative Bewusstseinsstörungen und pathologische neuromuskuläre Befunde (Tab. 1).
Tabelle 1: Klassische Zeichen des Serotonin-Syndroms. Nicht alle Befunde sind konsistent bei allen Patienten vorhanden (serotonerge Toxizität).
Trias des Serotonin-Syndroms
Zeichen der autonomen Hyperaktivität
Tachykardie
Arterielle Hypertonie
Schwitzen
Mydriase
Erbrechen
Diarrhoe
Hyperthermie
Qualitative Bewusstseinsstörungen
Angst
Hyperaktives Delir
Motorische Unruhe (Akathisie)
Desorientiertheit
Pathologische neuromuskuläre Befunde (vor allem an den unteren Extremitäten)
Gesteigerte Muskeleigenreflexe
Myoklonien
Tremor
Muskelrigor in schweren Fällen
Klinisch kann sich das Serotonin-Syndrom sehr mannigfaltig präsentieren. Bei eher milder Symptomatik präsentieren sich die afebrilen Patienten mit einer Tachykardie, Muskelzittern und Schwitzen. Typischerweise zeigen sich gesteigerte Muskeleigenreflexe und Myoklonien, die an den unteren Extremitäten ausgeprägter sind. Bei schwereren Fällen kommt zusätzlich ein hyperaktives Delir dazu. Im klinischen Status findet sich dann manchmal ein ausgeprägter muskulärer Rigor (erhöhte Muskelspannung), der die Myoklonien maskieren kann, und oft hohes Fieber. Die Patienten sind hyperton und tachykard. Später kann sich ein Schockzustand einstellen, der letal verlaufen kann. Typische Laborbefunde sind eine metabolische Azidose, eine Rhabdomyolyse mit erhöhter Kreatinkinase, Myoglobinurie und allenfalls eine Niereninsuffizienz. Bei schweren Fällen kann das Serotonin-Syndrom zu einer disseminierten intravasalen Gerinnung führen.
Die Diagnose des Serotonin-Syndroms ist eine klinische. Vor allem die Medikamenten-Anamnese sollte sorgfältig erhoben werden, einschliesslich nicht rezeptpflichtiger Medikamente und illegaler Substanzen. Ein Algorithmus [1] zur Diagnosestellung des Serotonin-Syndroms ist in Abbildung 1 aufgeführt.
Bei einer Überdosierung von selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) entwickeln zirka 14–16% der Patienten ein Serotonin-Syndrom. Allerdings wird es im klinischen Alltag oft übersehen, möglicherweise aufgrund atypischer Präsentationen (sind nur Teile eines Serotonin-Syndroms vorhanden, spricht man auch von serotonerger Toxizität) oder fehlendem Bewusstsein des Behandlungsteams.
Diverse Medikamente und Kombinationen von Medikamenten können für das Serotonin-Syndrom verantwortlich sein. Die häufigsten dabei sind Monoaminooxidasehemmer (neben Antidepressiva gehören auch die Antibiotika Isoniazid und Linezolid in diese Gruppe), trizyklische Antidepressiva, SSRI, und SNRI, bestimmte Opioide (unter ihnen speziell Tramadol, Pethidin und Methadon. Morphin, Codein, Oxycodon und Buprenorphin hingegen führen wahrscheinlich nicht zu einem Serotonin-Syndrom [2]). Auch Antitussiva (Dextrometorphan) und selbst Johanniskraut sind als Auslöser des Serotonin-Syndroms bekannt, ebenso illegale Drogen wie Amphetamin, Kokain, Ecstasy und LSD (Tab. 2). Triptane können ein Serotonin-Syndrom wahrscheinlich nicht auslösen [7] und Antiemetika (Ondansetron) als 5-Hydroxy-Tryptamin-Rezeptor-Blocker ebenfalls nicht [2].
Tabelle 2: Medikamente, die zu einem Serotonin-Syndrom führen können, und ihr Wirkmechanismus.
Differentialdiagnostisch kommt neben Vergiftungen durch Anticholinergika (Muskeleigenreflexe normal, keine Darmgeräusche) und der malignen Hyperthermie bei Inhalationsanästhesie vor allem das maligne neuroleptische Syndrom in Betracht. Die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zum Serotonin-Syndrom sind ein langsamerer Beginn des malignen neuroleptischen Syndroms über Tage im Unterschied zum sich rasch entwickelnden Serotonin-Syndrom, die abgeschwächten Muskeleigenreflexe sowie der ausgeprägte Muskelrigor. Anamnestisch fehlt die Einnahme serotonerger Substanzen, Auslöser für das maligne neuroleptische Syndrom sind Dopaminrezeptor-Blocker [8]. Auch bildet sich das maligne neuroleptische Syndrom langsamer zurück. Schliesslich können bei Patienten mit Enzephalitiden serotonerge Zeichen gefunden werden.
Der erste therapeutische Schritt bei der Behandlung des Serotonin-Syndroms ist das Absetzen aller Medikamente, die dazu führen können. Eine engmaschige Überwachung, Flüssigkeitssubstitution sowie Benzodiazepine zur Behandlung der Agitation und der Myoklonien werden empfohlen. Patienten mit insbesondere schweren Formen könnten zusätzlich von der Gabe von Serotonin-Antagonisten profitieren. Cyproheptadin, ausschliesslich als perorale Form, ist in der Schweiz ausser Handel. Atypische Neuroleptika mit antagonistischer Aktivität gegen den 5-Hydroxytryptamin2A-Rezeptor wurden erfolgreich angewandt, etwa Olanzapin 10 mg sublingual. Eine Evidenz aus klinischen Studien fehlt allerdings, und es gibt gar Fallberichte eines Serotonin-Syndroms unter einer Behandlung mit Olanzapin [9]. Bei schweren Verläufen mit ausgeprägter Hyperthermie und Agitation sollte frühzeitig eine Sedation mit Benzodiazepinen inklusive Relaxation mit einem nicht depolarisierenden Muskelrelaxans, gefolgt von Intubation mit mechanischer Beatmung in Betracht gezogen werden. Weil manche Antidepressiva und insbesondere auch Citalopram zu einer Verlängerung der QT-Zeit führen können, sind serielle EKG-Ableitungen notwendig, etwa alle acht Stunden bis zur Normalisierung der QT-Zeit. Die Gabe von Magnesiumsulfat (2 g i.v.) wird empfohlen, wenn die QTc-Zeit über 560 ms verlängert ist oder Torsade-de-Pointes-Arrhythmien auftreten.
Das Wichtigste für die Praxis
• Das Serotonin-Syndrom ist eine oft unterdiagnostizierte, potentiell lebensbedrohliche unerwünschte Arzneimittelreaktion.
• Klinisch zeichnet es sich aus vor allem durch eine Symptom-Trias von autonomer Hyperaktivität, qualitativen Bewusstseinsstörungen und pathologischen neuromuskulären Befunden. Typisch sind Fieber, Hyperreflexie, Myoklonien und Agitation.
• Therapeutisch hat das Absetzen aller serotoninergen Medikamente oberste Priorität, des Weiteren eine engmaschige Überwachung inklusive 12-Ableitungs-EKG, Volumentherapie, Gabe von Benzodiazepinen. In schweren Fällen sind zusätzlich die Muskelrelaxation mit einem nicht depolarisierendes Agens und die maschinelle Beatmung indiziert.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Korrespondenz
Dr. med. Alexandra M. Groth Spital Limmattal Allgemeine Innere Medizin Urdorferstrasse 100 CH-8952 Schlieren alexandra.groth[at]spital-limmattal.ch
Literatur
1 Boyer EW, Shannon M. The Serotonin-Syndrome. N Engl J Med. 2005;352:1112–20.
2 Foong AL, Grindrod KA, Patel T, Kellar J. Demystifying Serotonin-Syndrome (or serotonin toxicity). Can Fam Physician. 2018;64:720–7.
3 Bertoli R, Tosi M, Vanini G, Caduff P, Cerny A. Sertonin-Syndrom bei Mirtazapin-Monotherapie. Swiss Med Forum. 2005;34(5):859–61.
4 Stephan P, Ramseier F, Etzensberger M, E. JS. Klonus, Hyperreflexie und Agitation bei einer Patientin mit hohem Fluvoxamin-Serumspiegel: Symptome der Serotonin-Toxizität. Swiss Med Forum. 2008;6(8):100–3.
5 Rickli A, Liakoni E, Hoener MC, Liechti ME. Opioid-induced inhibition of the human 5-HT and noradrenaline transporters in vitro: link to clinical reports of Serotonin-Syndrome. Br J Pharmacol. 2018;175:532–43.
6 Asch DA, Parker RM. The Libby Zion case. One step forward or two steps backward? N Engl J Med. 1988;318:771–5.
7 Orlova Y, Rizzoli P, Loder E. Association of Coprescription of Triptan Antimigraine Drugs and Selective Serotonin Reuptake Inhibitor or Selective Norepinephrine Reuptake Inhibitor Antidepressants With Serotonin-Syndrome. JAMA Neurol. 2018;75:566–72.
8 Krahenbuhl S, Raisin J, Herren T. [Malignant neuroleptic syndrome under metoclopramide and neuroleptics in anuria]. Schweiz Med Wochenschr. 1993;123:1359–62.
9 Wu CS, Tong SH, Ong CT, Sung SF. Serotonin-Syndrome Induced by Combined Use of Mirtazapine and Olanzapine Complicated with Rhabdomyolysis, Acute Renal Failure, and Acute Pulmonary Edema – A Case Report. Acta Neurol Taiwan. 2015;24:117–21.